Carolin Emcke: Politische Ansprache ein Debakel

Neue Osnabrücker Zeitung, 30.4.:

Philosophin und Publizistin moniert fehlende Empathie und Aufmerksamkeit – Lob für Karl Lauterbach

Carolin Emcke kritisiert die politische Kommunikation in der Zeit der Corona-Pandemie. Dieser Ansprache fehle es an Empathie und Aufmerksamkeit, sagte die Philosophin und Publizistin im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung. „Kommunikation wird aber völlig unterschätzt. Die politische Ansprache, das öffentliche Erklären, Vermitteln, Werben um Zuspruch oder Mitwirkung, das Eingehen auf nachvollziehbare Verunsicherung – das, was demokratischen Diskurs ausmacht, das ist ein Debakel in Deutschland. Die politische Kommunikation ist eines der wichtigsten Instrumente im Kampf gegen die Pandemie“, sagte Emcke. Zugleich stellte sie sich hinter die Schutzmaßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie: „Wir schauen gerade sehr auf die Härte der Maßnahmen. Das ist wichtig. Ohne Kontaktbeschränkung ist es nicht möglich, die Infektionszahlen so weit zu drücken, dass wir mit Testen und Nachverfolgen der Kontakte weiterkommen.“

Emcke bezieht in ihre Kritik ausdrücklich Teile der medialen Aufbereitung mit ein. Gerade in Talkshows werden nach ihrer Einschätzung keine Erkenntnisgewinne erzielt. „Es wäre wichtiger, über systematische Fragen der Pandemie zu sprechen: über das Verhältnis von Armut und Krankheit, über Anerkennung der Arbeit von Pflegeberufen, über die Lage von Frauen in der Corona-Krise“, kritisierte Emcke. Zugleich lobt sie den Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach (SPD). „Meine Verehrung, auch und gerade wenn er sich mal irrt und sich dann wieder korrigiert. Bisweilen wirkt er wie der einzige Übersetzer der gesundheitspolitischen Fragen, auf den aber auch nicht gehört wird. Ich habe großen Respekt vor der Energieleistung, mit der er sich in diese Gesprächsrunden begibt“, so Emcke.

Die Essayistin warnte eindringlich davor, in Zeiten der Pandemiebekämpfung autoritäre politische Modelle zu favorisieren und etwa China als Vorbild hinzustellen. „Die Pandemie birgt das große Risiko, dass Modelle wie das Chinas als erfolgreich daherkommen und damit autoritäre und totalitäre Methoden als vermeintlich effizientere legitimiert werden. In Wahrheit sind andere asiatische Länder, aber auch Neuseeland und Australien mit demokratischeren Mitteln erfolgreich. Neuseeland ist ein Beispiel für einen sehr strengen, aber überzeugenden Kurs. Der Unterschied besteht dabei nicht nur in der strikten Abriegelung und Kontaktbeschränkung, sondern auch in der politischen Kommunikation“, sagte Emcke und ergänzte: „Wenn wir in einigen Jahren noch einmal fragen, welche Länder wie gut durch die Krise gekommen sind, wird es auch um die demokratischen Kosten gehen. Die waren in China entsetzlich hoch.“

Carolin Emcke warnte zugleich vor einem durch die Pandemie ausgelösten gesellschaftlichen und sozialen Rückschritt. „Was das Begehren und die Lust angeht, bemerke ich eine Verbürgerlichung schon im Sprechen, etwa, wenn da immer von ,Haushalten‘ die Rede ist. Ich denke über mich nicht in der Kategorie des Haushaltes nach. Das klingt schon desexualisierend. Wir erleben, dass es um eine bestimmte Vorstellung von Haushalt und Familie geht. Das alles orientiert sich sehr am Bild der Kleinfamilie, so wichtig ich deren Sorgen und Nöte auch finde“, beobachtet Emcke eine gesellschaftliche Veränderung. Zugleich fordert sie, andere Lebens- und Beziehungsmodelle im Blick zu behalten und auf diese Weise Pluralität zu betonen: „Es gibt aber auch andere Arten der Beziehungen. Homosexuelle und queere Lebensformen definieren sich oft eher in horizontalen Achsen der Freundschaftsbeziehungen als in vertikalen Achsen klassischer Familien.“

Die 1967 geborene Carolin Emcke tritt seit Jahren mit Büchern wie „Wie wir begehren“ und „Gegen den Hass“ für Toleranz und gegen rechte Strömungen in der Gesellschaft auf. Die Autorin wurde unter anderem 2016 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.