Truppenabzug – Taliban – Da’esch – OFARIN macht weiter – und das Auge der kleinen Beheschta

Zuerst muss ich eine Beichte loswerden. Wir haben bisher für die Corona-Hilfe an unsere Lehrer und Schüler gut 2.600 € ausgezahlt. Die Einnahmen dafür hatten wir nicht gegen die übrigen Einnahmen für die Schulen abgegrenzt, weil in vielen Fällen nicht klar wurde, wofür gespendet worden war. Sicher waren von den Spenden mehr als 2600 € für Corona-Hilfe „gemeint“.

Nun wurde gemeldet, dass unsere siebenjährige Schülerin Beheschta schon länger ein verletztes Auge hat, vermutlich das Ergebnis eines Streits mit älteren Geschwistern. In Afghanistan war ein Eingriff nicht möglich. Der Vater brachte seine Tochter nach Pakistan. Doch dort konnte er den Eingriff nicht bezahlen. Vater und Tochter kehrten unverrichteter Dinge nach Kabul zurück. Jetzt schmerzt das Auge wieder und blutet. OFARIN wurde gebeten, eine Behandlung mit zu finanzieren. Vor fünf Jahren hatten wir die Augen aller Lehrer und Schüler testen und gegebenenfalls behandeln lassen. Seitdem gilt OFARIN auch als für die Augen zuständig. Ich habe zugesagt, dass wir Kosten bis 2000 € für einen Eingriff übernehmen. Sofern jetzt noch eine Behandlung sinnvoll ist, ist dieser Betrag vermutlich nicht ausreichend. Vater mit Tochter werden in Begleitung eines Mitarbeiters von OFARIN nach Pakistan reisen und dort einen Augenarzt aufsuchen. Danach werden wir entscheiden, was wir tun können. Der Vater ist bei einer Firma als Putzkraft angestellt und kann erst jetzt, im Ramadan, den nötigen Urlaub bekommen. Eine Behandlung würde sicher die verbleibenden Corona-Mittel verbrauchen, wenn wir diese denn ermittelt hätten. Wir werden über das Weitere berichten.

 

Politisches

In vorangehenden Rundbriefen hatte ich mich mehrmals zu dem Beschluss geäußert, die Truppen der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan abzuziehen. Ich hatte gehofft, dass die Regierung Biden sich die Zeit nimmt, die Modalitäten dieses Abzugs noch einmal zu durchdenken. Aber das war wohl nicht mehr möglich. Die twitternde Abrissbirne hatte weltweit zu viel Schaden angerichtet. Die neue Regierung kann nicht alle Schäden gleichzeitig flicken.

Afghanistan ist auf den ersten Blick nicht die wichtigste Baustelle der Regierung Biden. Der Truppenabzug, den Donald Trump eingeläutet hatte, war schon zu weit fortgeschritten. Man konnte ihn zeitlich nicht mehr um den Zeitraum verlängern, der für eine vernünftige Lösung der Probleme nötig gewesen wäre. So hat die Regierung Biden nach kurzem Zögern beschlossen, am Abzugsplan von Donald Trump nichts Wesentliches mehr zu ändern.

Selbst Trumps Verhandlungsführer, der zwielichtige Zalmai Khalilzad, der bereits 2002 als Sonderbotschafter für den Präsidenten Bush jr. in Afghanistan, dem Lande seiner Vorfahren, Schaden angerichtet hatte, wurde von Präsident Biden nicht mehr ausgetauscht.

Die USA hätten sicher nicht alle Probleme der Region beilegen können. Aber die Kabuler Regierung und die Taliban zu einem Arrangement zu bewegen, wäre eines ernsthaften Versuches wert gewesen.

Gerd Müller, der deutsche Minister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, versicherte, dass Deutschland der afghanischen Regierung weiterhin zivile Unterstützung leisten werde. Nach allem, was Deutschland in den letzten 20 Jahren auf diesem Gebiet gezeigt hat, ist das nicht unbedingt eine frohe Botschaft. Deutschland hat viel Geld für Afghanistan ausgegeben, keine Frage. Jährlich sind dreistellige Millionenbeträge praktisch ohne ernsthafte Kontrolle afghanischen Auftragnehmern überlassen worden. Das hat die Korruption gewaltig angeheizt und einer Reihe afghanischer Oligarchen zu märchenhaftem Immobilienbesitz in den Golfstaaten verholfen. Es wäre gut, diese Hilfe drastisch auf ein Maß zu reduzieren, das von deutschen Stellen strikt und seriös kontrolliert werden kann.

Der deutsche Außenminister Maaß will humanitäre Hilfe davon abhängig machen, dass innerafghanische Friedensgespräche Erfolg haben. Es wird jetzt viel geredet.

Werden die Taliban die Alleinherrschaft gewinnen und dann wieder die talibanischen Prinzipien durchsetzen wie bis 2001? Frauen die nicht voll verschleiert das Haus verlassen, werden mit Stromkabeln geschlagen. Sie dürfen nicht berufstätig sein. Mädchen dürfen nicht zur Schule gehen. Männer, die ihren Bart pflegen oder sich gar rasieren, werden eingekerkert. Musik ist verboten. Wer Tonträger besitzt, kommt ins Gefängnis. Außer Passbildern sind keine Fotos erlaubt.

Man kann nicht ausschließen, dass es wieder so kommt. Wenn es so kommt, werden die USA und die Länder, die gerade ihre Truppen abziehen, nicht lange die Erleichterung genießen können, die sie sich durch den Abzug schaffen. Die Afghanen werden ihre Heimat in großer Zahl verlassen und in Asien, aber auch in Europa Zuflucht suchen. China im Osten Afghanistans kann sich keinen radikal-islamischen Nachbarn jenseits seiner islamischen Westgebiete leisten. Der schiitische Iran im Westen wird keinen radikal-sunnitischen Nachbarn in seinem Osten dulden. Beide Länder werden eher früher als später mit militärischen Mitteln gegen die Taliban vorgehen. Pakistan wird Afghanistans einzige Stütze – besser: koloniale Protektoratsmacht – sein. Jede Unterstützung des Taliban-Regimes durch radikale Geldgeber, wie einst durch Osama-bin-Laden, wird höchst willkommen sein. Die USA werden keine Mittel haben, die Ansiedlung von Brutstätten des Terrorismus in Afghanistan zu verhindern.

Doch warum haben die Taliban so ein schreckliches Bild abgegeben, als sie Afghanistan bis 2001 dominierten? Die Taliban-Bewegung wurde vom pakistanischen Geheimdienst ISI vornehmlich aus afghanischen Flüchtlingen zusammengesetzt. Der ISI verpasste der Bewegung eine radikal-islamische Ideologie. Das sollte ihr bei der konservativen Landbevölkerung Afghanistans den Nimbus besonderer Frömmigkeit verleihen. Es sollte Afghanistan aber auch rückständig halten und von entwickelten Ländern isolieren. Die Taliban mussten diese Ideologie übernehmen, weil sie vollkommen von pakistanischer Unterstützung abhingen. Die Beziehung der Taliban zu Pakistan war schon damals alles andere als eine Herzenssache.

Jetzt sind die Taliban mit Waffen versorgt und nicht stark von Pakistan abhängig. Sie können kein Interesse daran haben, sich Iran oder China zum Feind zu machen und sich von anderen Ländern zu isolieren. Sie tun gut daran, sich die Option eines Arrangements mit der Kabuler Regierung offen zu halten. Die Rolle des islamistischen Schreckgespenstes passt nicht in die gegenwärtige Lage.

 

In Afghanistan gibt es noch die Kriegspartei der Da’esch, also des „Islamischen Staates“. In Afghanistan geht man davon aus, dass der „Islamische Staat“ nichts mit der Bewegung gleichen Namens zu tun hat, die in Syrien und im Irak gehaust hat. Vielmehr nimmt man an, dass die afghanischen Da‘esch ebenfalls vom ISI geschaffen wurden. Mehr darüber finden Sie in vorangehenden Rundbriefen. Auf jeden Fall sind die Taliban und die Da’esch zutiefst verfeindet.

Die Taliban geben sich derzeit entschlossen und lehnen Friedensverhandlungen mit der Regierung ab, solange noch US-Truppen im Land stehen, und die Regierung hält mit kriegerischer Entschlossenheit dagegen und lastet auch die Anschläge der Da’esch den Taliban an. Man darf hoffen, dass beide Kriegsparteien beginnen, ein Arrangement ernsthaft zu prüfen. Das muss nicht in aller Öffentlichkeit geschehen. Dabei können die Westmächte durchaus hilfreich sein, auch wenn sie militärisch praktisch nicht mehr präsent sind. Viel wird davon abhängen, wie sehr die Anhänger der Taliban die oben aufgezählten talibanischen Prinzipien verinnerlicht haben. Ich habe die Taliban als eine sehr heterogene Organisation kennen gelernt, deren Mitglieder zu pragmatischem Handeln neigen.

Die Bindung an Pakistan haben schon vor 2001 die meisten Taliban als notwendiges Übel empfunden. Wenn dieses Übel sich als nicht mehr notwendig erweisen sollte, besteht auch keine Notwendigkeit mehr, die talibanischen Prinzipien zu vertreten. Pakistan könnte versuchen, durch die Da’esch Einfluss in Afghanistan zu behalten, was aber keine dauerhafte Perspektive ist.

Was bedeutet das für OFARIN? In den nächsten Monaten wird sich in Afghanistan nicht viel ändern. Später wird es zu einer Teilhabe der Taliban an der Macht kommen, vielleicht zu einer Alleinherrschaft. OFARIN wird unter all diesen Konstellationen weiterarbeiten. OFARIN hat sein Programm während der Taliban-Herrschaft – und auf Wunsch der Taliban – begonnen. Unser Programmgebiet in der Provinz Logar wird teilweise von den Taliban beherrscht. Wir gehen davon aus, dass die Taliban auch in der Zukunft keine Einwände gegen unser Programm haben werden.

Die elementare Schulbildung, die OFARIN vermittelt, wird in Afghanistan dringend benötigt. Bei OFARIN ist immer kollegial und in gegenseitiger Achtung zusammengearbeitet worden. Das wurde von den Betroffenen schon zur Zeit der Taliban als vorbildlich und anregend empfunden. Auch dieses Vorbild möchte OFARIN weiter der afghanischen Gesellschaft geben. Es wird dort ebenfalls gebraucht. Es gibt keinen Grund, diese wichtigen Aufgaben aufzugeben, nur weil in Mazar-e-Scharif keine Bundeswehr mehr stationiert ist.

Herzliche Grüße,

Peter Schwittek

Mehr Infos und ggf. Spenden unter: www.ofarin.org

PS.

Hier etwas Organisatrorisches für die Empfängerinnen und Empfänger unseres Rundbriefes:

 Wir haben Probleme mit dem Versand dieser Rundbriefe. Die werden von wix.com verschickt, dem Unternehmen, das auch unsere Homepage betreut. Als Versender firmierte folglich wix.com. wix.com ist ein großes, internationales Unternehmen. Etliche Firmen, die unerwünschte Reklame oder Zwielichtigeres verschicken, tun das über wix.com. Daher sperren viele Empfänger ihren E-Mail-Empfang für Sendungen mit diesem Absender. Uns wird in solchem Fall mitgeteilt, dass die Sendungen nicht zugestellt werden kann. Deshalb besorgten wir uns bei wix.com die eigene Adresse ofarin.org. Die Rundbriefe erhalten jetzt diesen Absender. Leider hat sich die Versendung dadurch nicht verbessert. Es ist kaum ein Muster zu erkennen, wer warum den Empfang blockt. Oft sind es Adressen, die Namen von Organisationen nach dem @ erkennen lassen, wie info@ofarin.de. Sonst ist vor allem t-online.de notorisch. t-online blockiert immer einen Teil seiner Adressen für ofarin.org, meist nicht alle. Verhandlungen mit denen ergaben, dass man dort nicht weiß, woran das liegt und was man machen könnte. Uns hat diese Mitteilung weder überrascht noch erfreut. t-online.de hat tiefe Wurzeln in der Postkutschenzeit und wird noch Jahrzehnte brauchen, bis es im 19. Jahrhundert ankommt. Aber allein wegen unserer Rundbriefe wechselt man nicht den Anbieter, denn der Aufwand, alle Kontakte auf eine neue E-Mail-Anschrift umzustellen, kostete viel Aufwand und verursacht mit Sicherheit Verluste. Wir haben leider selber eine t-online-Adresse. Aber wenn uns ein gutes Fünftel von rund 600 Rundbriefen als unzustellbar gemeldet wird und wir dieses Fünftel „zu Fuß“, d.h. als Anhang an E-Mails, noch einmal versenden müssen, dann sind wir sauer. Daher die Bitte an alle, die eine besondere E-Mail-Adresse haben, Ihre Spam-Filter und sonstige Schutzvorrichtungen zu überprüfen und evtl. für ofarin.org freizuschalten.

Vielleicht kann uns sogar jemand helfen, der weiß, wie wir ohne diesen Ärger Rundbriefe verschicken können.