Kommentar von Andreas Härtel zum Sturm auf das Kapitol

Ausgerechnet Venezuela! Bislang war es undenkbar, dass der Außenminister dieses krisengeschüttelten südamerikanischen Landes der scheinbar unerschütterlichen Demokratie der Vereinigten Staaten wünschen könnte, sie möge zurück zur Stabilität finden. Aber so sind die Realitäten zu Beginn des Jahres 2021, zum Ende der Präsidentschaft Donald Trumps. Bizarr. Und angsteinflößend. Die Horden von Washington haben sich, angefeuert vom ersten Mann im Staat, mit breiter Brust und ungetarnt in das Heiligste der US-Demokratie vorgewagt. Sie haben dort Chaos gestiftet, vier Menschen sind gestorben. All das war nahe an einem Putsch von oben. Es war aber vor allem eine Demonstration Trumps: Seht her, ich kann die Horden in Gang setzen, wie es mir beliebt. Das ist ein Menetekel für die Tage bis zur Inauguration von Joe Biden. Und für die kommenden Monate, in denen Trump um seinen weiteren politischen Einfluss ringen wird. Vielleicht auch um seine Freiheit, denn Strafverfolgung scheint ihm nun gewiss. Von einem fürchterlichen Finale der Präsidentschaft Trumps kann deshalb vorerst noch nicht die Rede sein. Womöglich hat gerade erst etwas Schlimmes begonnen.

In den vier Jahren Trump sind die Fundamente der amerikanischen Demokratie gewaltig ins Wanken geraten. Aber nicht allein der Präsident ist schuld. Nein, es gibt sehr viele, die ihn gestützt haben, bis zur Selbstverleugnung. Es ist zu spät zum Beispiel für Mike Pence und manche Minister, sich jetzt vom Präsidenten abzusetzen. Als Vize diente Pence seit der Wahl Trumps 2016 als dessen Vasall. Aber es hat ja auch die ganze Grand Old Party der Republikaner dem irrlichternden, Hass, Gewalt und Spaltung säenden Mann im Weißen Haus so lange zugeschaut. Heute sagen 45 Prozent der republikanischen Wähler in Umfragen, dass sie den Sturm aufs Kapitol in Ordnung finden. Und jeder Dritte glaubt, dass die Präsidentenwahl Anfang November manipuliert wurde. Damit ist alles über den Zustand des Landes und über die Wirkung der Lügen aus dem Munde des 45.Präsidenten gesagt.

Die Ereignisse von Washington sind auch ein Menetekel für die ganze Welt. Nachahmer erscheinen vielerorts denkbar. Die Fliehkräfte haben in etlichen westlichen Gesellschaften zugenommen. Hier in Deutschland formiert sich bekanntlich rund um die Corona-Demos eine neue Form des Extremismus, die sich wie der Trumpismus aus einer Scheinwelt speist und Argumenten unzugänglich ist. Eine klare Abgrenzung zu den Feinden der Demokratie ist nun mehr denn je angesagt, immer und überall. Niemand sollte Demokratie als selbstverständlich betrachten. Sie lebt vom Wettstreit der Argumente, mit gegenseitigem Verständnis und Empathie. Das Amerika Trumps, mit all seinen Lügen und Fake News, mit all den Tiraden gegen politische Gegner, ist davon so weit entfernt, dass es kaum möglich erscheint, das Land in naher Zukunft zu einen. Biden hat nun allerdings die Mehrheit im Parlament hinter sich. Und mit der offiziellen Feststellung seines Wahlsiegs hat der Parlamentarismus erst einmal triumphiert. Nur könnte sich der schlimmste Gegner woanders finden. „Erinnert euch immer an diesen Tag“, hat Trump dem Mob auf den Weg gegeben. Es klingt nach einer Warnung. Danach, dass er sie irgendwann wieder losschickt, die Feinde der Demokratie.

Quelle: Allgemeine Zeitung Mainz (ots)