OFARIN & Corona: Was sich z.Zt. so in Afghanistan tut

Auch in Afghanistan rollt wieder eine Corona-Welle. Im Sommer waren unsere Kollegen überzeugt, dass die meisten Afghanen die Krankheit gehabt hätten und dass man die Seuche abhaken könne. Unser kleines Programm, das die wirtschaftlichen Folgen des Unheils lindern hilft, zeigte uns aber, dass noch nicht sehr viele Familien betroffen waren. Und prompt gibt es, seitdem es kälter wurde, auch in Afghanistan eine zweite Welle. Die Fallzahlen steigen wieder stark. Vor allem steigt die Zahl der Verstorbenen.

Wir – meine Frau und ich – wollen in der aktuellen Corona-Lage nicht nach Afghanistan reisen. Ich beruhige Sie dann gerne damit, dass ich häufig mit Kabul telefoniere, meistens mit dem Büro-Manager Abdul Hussain. Manchmal geht es dabei um die Politik der afghanischen Regierung, der Taliban, des Islamischen Staates, Pakistans. Aber meist geht es um Konkreteres, um Fragen, die OFARIN entscheiden muss:

 

In Dascht-e-Bartschi bat ein Mullah OFARIN darum, den Unterricht für vier Klassen erwachsener Frauen nur mit Material, Ausbildung und Beratung zu unterstützen. Die Lehrerinnen brauche OFARIN nicht zu entlohnen. Das konnten wir schlecht ablehnen. Zwei Wochen später musste Abdul Hussain berichten, dass sich nur noch eine Lehrerin auf das Abenteuer einlassen wolle. Wir beschlossen, es mit der einen Dame zu versuchen. Abdul Hussain stattete die gute Frau mit dem nötigen Material aus, damit sie sich auf das erste Seminar vorbereiten konnte. Wieder zwei Wochen später fand ein erstes Seminar statt. Die Kandidatin hatte vieles noch nicht verstanden. Sie werde wiederkommen und man werde sich weiter mit ihr unterhalten.

In Ser-e-Kotal hatte der Unterricht bisher in einer unscheinbaren Moschee und in einigen Nachbarhäusern stattgefunden. OFARIN hatte dort im Laufe der Jahre zusätzliche Räume und Toiletten gebaut. Auch hatten wir in den unteren Räumen Stützen eingefügt, damit nicht alles bei einem Erdbeben ein jähes Ende findet. Ser-e-Kotal liegt an einem Berghang in der Stadt. Weiter oben gibt es kein Wasser. Unten In der Talsohle wurden Handpumpen installiert. Manchmal stehen dort Menschen Schlange, um Wasser zu holen und hoch zu schleppen. Inzwischen gibt es Unternehmen, die in zerbeulten Tankwagen Trinkwasser in die Berge hochfahren und es dort kanisterweise verkaufen. OFARIN wurde vor etlichen Jahren in Ser-e-Kotal aktiv, weil uns Karisadah, ein Mullah, der hier wohnt, dazu ermuntert hatte. Die Gegend ist so arm. Wir konnten nicht widerstehen.

In Ser-e-Kotal schwankt die Zahl der Schüler, was das Unterrichten schwer macht. Menschen ziehen hier weg, wenn es möglich ist. Doch es lag wohl nicht nur daran, dass Schüler nicht kamen. Karisadah ist erst auf den zweiten oder dritten Blick eine liebenswürdige Person. Er scheint sich mit Teilen der Bevölkerung nicht gut zu verstehen. Das muss nicht an ihm liegen. In Ser-e-Kotal wohnen alle Ethnien Afghanistans. Die gegenseitige Zuneigung der Einwohner ist begrenzt.

Auch das Nutzungsrecht für das Moscheegebäude, in dem unser Unterricht stattfand, war umstritten. Karisadah erwarb ein eigenes Grundstück ganz in der Nähe und baute dort eine geräumige Moschee, in der sich auch seine Wohnung befindet. Dort ist jetzt seine Familie und unser Unterricht hingezogen.

OFARINs Trainerinnen in Ser-e-Kotal sind Fausia und Hassina. Fausia ist verheiratet. Hassina wurde gerade verlobt – mit dem ältesten Sohn von Karisadah. Spätestens in einem halben Jahr wird sie heiraten. Bis dahin haben wir ein Problem. Solange sie nicht verheiratet ist, darf sie das Haus ihres Zukünftigen nicht betreten. Und das ist nun einmal ihre Arbeitsstelle, die Moschee, in der der Unterricht stattfindet. Fausia hat ein Baby. Sie kann nicht zusätzlich die Klassen von Hassina betreuen. Karisadah hat drei Vorschläge, wer für Hassina vorübergehend einspringen könnte und den wir dann nach der Hochzeit wieder entlassen könnten: Seine Frau, sein zweiter Sohn oder seine Tochter: Karisadahs Frau ist nicht jung. Sie wird sich nicht mehr auf unsere Unterrichtsmethoden einstellen, die für Afghanen zuerst gewöhnungsbedürftigen sind. Die Tochter ist zu jung, als dass man sie Lehrerinnen und Lehrern als Trainerin vor die Nase setzen könnte. Die meisten Klassen werden von Lehrerinnen unterrichtet. Die können wir schlecht von einem jungen Burschen beaufsichtigen lassen. Wir werden wohl noch etwas wegen dem Fall telefonieren müssen.

 

Eine der ersten, die Corona-Hilfe von OFARIN erhielt, war Muzhgan. Die lebt im Kabuler Stadtteil Schindowal und arbeitete dort als Lehrerin für OFARIN. Im Frühling starben ihr Vater und ihre Mutter an Corona. Muzhgan blieb mit einer kranken Großmutter allein. Muzhgan hat sechs Schwestern und fünf Brüder. Alle sind verheiratet. Alle hätten ihre eigenen Probleme. Von den Geschwistern könne sie keine Hilfe erwarten, hatte Muzhgan unseren Kolleginnen erzählt.

Die Brüder haben jetzt das Elternhaus, in dem Muzhgan unterrichtete und mit der Oma wohnte, mit allem Inventar verkauft. Unsere Lehrerin und ihre Großmutter wurden bei einer Schwester und danach in einer winzigen Kammer im Haus eines Bruders untergebracht.

Unser Mann in Schindowal ist der sehr zuverlässige Abdul Rassul. Er berichtete, dass Muzhgans Brüder rauschgiftsüchtig sind. Wir sollten das nicht werten. Viele junge Männer gehen in den Iran, um Geld zu verdienen. Dort leisten sie schwere körperliche Arbeit. Damit sie das aushalten, besorgen ihnen die iranischen Arbeitgeber Drogen. Wenn sie dann körperlich ruiniert sind, kehren sie nach Afghanistan zurück.

Abdul Rassul berichtete, dass Muzhgan ihn bedrängt habe, den Brüdern nichts von unserer Unterstützung zu sagen. Die hätten ihr das Geld sofort abgenommen. Wir dachten daran, Muzghan zu einer lokalen Trainerin zu machen. Schließlich hatte sie schon einige Jahre erfolgreich als Lehrerin gearbeitet. So hätte sie dauerhaft ein ausreichendes Einkommen gehabt. Aber das erlaubten ihr die Brüder nicht. Als Trainerin müsste sie zu Berichten und Fortbildungen in OFARINs Büro kommen. Das ging den Brüdern zu weit. Als Trainerin müsste sie den Unterricht in fremden Wohnungen besuchen. Auch das ging nicht. Allerdings arbeiten für OFARIN schon immer Trainerinnen in Schindowal, die Unterricht in Privatwohnungen aufsuchen. Selber unterrichten konnte und durfte Muzhgans auch nicht mehr. Wo hätte sie das tun sollen? Außerdem hätte OFARINs Bezahlung für 90 Minuten Unterricht am Tag nicht für den Lebensunterhalt von zwei Menschen gereicht. Jetzt hat Muzhgan nichts mehr. Es geht nicht darum, dass zwei Menschen unter die Armutsgrenze von 60% des Durchschnittseinkommens sinken könnten. Muzhgan und ihre Oma haben schlicht nichts zu essen.

Muzhgan ist verlobt. Abdul Rassul meint, der Verlobte sei ein ordentlicher Kerl. Er wohnt draußen am Stadtrand in Reschkhor. Das wäre eine Chance für Muzhgan. Aber die liegt in ferner Zukunft. Hochzeiten kosten viel Geld. Das ist eine Frage der Ehre der Familie. Oft ist ein Paar einander versprochen, aber der Bräutigam bringt den Brautpreis nicht auf. Bei armen Familien vergehen etliche Jahre, bis es zur Heirat kommt. Bis dahin ist Muzhgan verhungert.

Abdul Hussain wird sich mit dem Verlobten von Muzhgan treffen.

 

OFARINs Finanzprobleme sind vergleichsweise erträglich, obwohl es sich um ganz andere Beträge handelt. In diesem trüben Corona-Herbst haben uns recht viele Menschen unter die Arme gegriffen, auch welche, die wir bisher noch nicht kannten. Das sichert uns unsere bescheidene Existenz für einige Wochen mehr als sonst. Über den Berg sind wir noch lange nicht. Aber wir freuen uns.

Menschen, die neu zu OFARIN stoßen, werden für die monatlichen Rundbriefe zwangsrekrutiert. Für manchen Betroffenen mag das lästig sein. Dann schreiben Sie mir, bitte! Wir nehmen Sie aus dem Verteiler. Wer dagegen unsere Rundbriefe beziehen will, kann sich über die Homepage ofarin.de anmelden. Niemand ist deswegen verpflichtet zu spenden oder z.B. meine Ethno-Krimis (über die Homepage und dort Spenden) zu beziehen. Allerdings werden wir in den Rundbriefen versuchen, Sie dazu zu überreden.

Es sieht so aus, als ob alle Möglichkeiten, die wir zum Spenden eingerichtet haben, jetzt funktionieren. Eine Zeit lang wurden Spenden, die über Paypal kamen, von Paypal den Spendern zurücküberwiesen. Wir hatten Paypal eine fehlerhafte eigene Adresse angegeben. Das ist jetzt behoben. Wir bitten um Entschuldigung.

Dadurch, dass die Zahl der Spender langsam steigt, müssen wir die Kontakte zu diesen Menschen, die uns so am Herzen liegen, „industrialisieren“. Ich kann nicht mehr an jeden persönlich schreiben.

Deutsche Finanzämter erkennen für Spenden bis 200 € abgestempelte Einzahlungsbelege oder Ähnliches an. In solchen Fällen brauchen Sie keine Spendenbescheinigung von uns. Außerdem wollen wir Spendenquittungen nur noch im Januar des folgenden Jahres ausstellen. Für die meisten Spender wird das reichen. Sollten sie die Quittung früher benötigen oder eine Bescheinigung für einen kleineren Betrag als 200 €, schreiben Sie! Wir werden das Nötige tun.

 

Herzliche Grüße aus unserem Corona-Käfig,

Peter Schwittek.