Leider kann ich Sie wieder nur indirekt über die Lage in Afghanistan informieren. Meine Kollegen und andere Freunde erzählen mir am Telefon über das, was man in Afghanistan denkt und tut.
Zur Lage in Afghanistan
In OFARINs Programm tut sich fast nichts. Wegen Corona kommt die Belegschaft nicht ins Büro. Es ist Ramadan. Am Wochenende ist Id-ul-Fitr, das Fest, das den Fastenmonat beendet.
Die staatlichen Schulen wurden im Ramadan ebenfalls wegen Corona geschlossen. Auch OFARIN unterbrach seinen Unterricht und wird ihn frühestens dann wieder beginnen, wenn auch die staatlichen Schulen geöffnet werden. Wann das der Fall sein wird, ist noch unbekannt.
Corona beherrscht auch in Afghanistan das Leben. Allerdings wurden Verordnungen, die die Verbreitung der Krankheit verhindern sollen, nur zwei Wochen lang einigermaßen eingehalten. Jetzt bleibt niemand mehr zu Hause. Die Geschäfte sind wieder geöffnet. Aber wenn man telefoniert, wird man – bis der Angerufene abhebt – weiterhin aufgefordert, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und belehrt, welches Obst gesund ist. Täglich melden die Medien einige Hundert Neuinfektionen – mit steigender Tendenz. Wie solche Zahlen ermittelt werden, ist unbekannt
Manche Menschen glauben, dass es die Krankheit in Afghanistan nicht gäbe. Die Regierung simuliere die Notlage, um ausländische Hilfe zu bekommen. Weltweit verursacht Corona Atemnot und Verschwörungstheorien. Meine Kollegen versichern, dass sie mehrere Corona-Fälle kennen. Aber wer hat die diagnostiziert?
Jenseits der Schulen ist es weniger ruhig. In Ostafghanistan gab es mehrere Anschläge. Im schiitischen Kabuler Stadtteil Dascht-e-Bartschi wurde ein großes Entbindungskrankenhaus der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ überfallen und ein entsetzliches Blutbad angerichtet. Gebärende Frauen und ihre Babys wurden ermordet. Über 20 Menschen starben. Es ist wahrscheinlich, dass diese Überfälle die Da’esch, also die Anhänger des Islamischen Staates, durchgeführt haben. Den Taliban trauen meine Kollegen solche Brutalität nicht zu. Gewöhnlich bekennen sich die Taliban zu ihren Taten. Für die genannten Fälle lehnen sie die Verantwortung ab.
Der Staatspräsident Aschraf Ghani kann sich nicht damit abfinden, dass die USA ihr militärisches Engagement in Afghanistan beenden wollen. Er versucht die Entscheidung rückgängig zu machen und behauptet, die Taliban hätten alle Anschläge begangen, insbesondere auch das bestialische Gemetzel in Dascht-e-Bartschi.
Aschraf Ghani ist nicht dumm, aber er entscheidet oft spontan und selbstherrlich. In diesem Fall hat er sich nach Meinung vieler Afghanen verrannt. Manche trauen ihm sogar zu, den Anschlag auf das Krankenhaus selber organisiert zu haben.
Allerdings ist Aschraf Ghani seit wenigen Tagen nicht mehr alleiniger Staatspräsident. Wie Sie wissen, war das offizielle Ergebnis der Präsidentschaftswahl umstritten. Dr. Abdulla Abdullah, Aschraf Ghanis Konkurrent, erkannte das Wahlergebnis nicht an und ließ sich ebenfalls zum Staatspräsidenten ausrufen. Dieser Konflikt konnte jetzt beigelegt werden. Beide Herren sind bereit, die Macht zu teilen.
Meine Freunde gehen davon aus, dass Dr. Abdullah einen flexibleren Umgang mit den Taliban anstrebt. Man darf hoffen, dass das zutrifft und dass die Teilung der Macht nicht schon an diesem Unterschied zerbricht. Dann könnte es zu ernsthaften Verhandlungen mit den Taliban kommen.
Wie „nachhaltig“ kann OFARINs Programm sein?
Afghanistan ist nicht in der Lage, ein Schulwesen zu organisieren, das seiner Jugend die elementaren Kulturtechniken vermittelt. Das habe ich mehrfach begründet und möchte Sie nicht ein weiteres Mal mit Erläuterungen dieser Tatsache langweilen. Es ist aber möglich, afghanische Lehrkräfte darauf vorzubereiten, einen leistungsfähigen Unterricht zu geben. Das beweist das Tun von OFARIN. OFARINs Lehrerinnen und Lehrern gefällt ihre Arbeit. Sobald sie sehen, wie erfolgreich ihr Unterricht ist, werden sie überzeugte Anhänger von OFARINs Methoden.
In Afghanistan fehlen erfolgreiche Unterrichtsmethoden. OFARIN bringt solche Methoden nach Afghanistan. Afghanische Lehrkräfte übernehmen die Methoden problemlos und machen sie zum Bestandteil ihrer Arbeit. So sieht erfolgreiche Entwicklungshilfe aus.
Dennoch unterstützen institutionelle Geldgeber, insbesondere deutsche staatliche Stellen, OFARIN nicht. Sie verlangen zusätzlich, dass OFARIN eine afghanische Organisation sein muss und dass das, was OFARIN aufbaut, nach absehbarer – also begrenzter – Zeit in afghanische Hände übergeht.
Mit gehörigem Aufwand sollte es möglich sein, das Kabuler Büro in einen deutschen und einen afghanischen Teil aufzuspalten, um den Wunsch solcher Geldgeber nach einer afghanischen Organisation zu befriedigen. Das führte zu internen Reibungsverlusten und zu einem schlechten Stand des afghanischen OFARIN-Büros gegenüber den afghanischen Behörden. Die Konstruktion wäre widersinnig, denn Entwicklungshilfe ist nun mal Transfer von Wissen und Können aus einem entwickelten Land in ein Entwicklungsland und nicht von einer Organisation des Entwicklungslandes in eine andere. Aber wenn es ums Geld geht, muss man auch unsinnige Marotten von Bürokraten in Kauf nehmen. Es sollte dann allerdings um viel Geld gehen.
Die andere Forderung institutioneller Geldgeber, dass das Projekt nach festgelegter Zeit auf einen afghanischen Träger übergehen muss, ist dagegen ein unüberwindbares Hindernis. Hier ist immerhin die Intention der Geldgeber nachvollziehbar. Die wollen wissen, für welche Zeit und mit welchen Mitteln sie sich engagieren.
Als die afghanischen Hände, in die OFARIN sein Programm nach einer begrenzten Frist legen müsste, kommen nach Lage der Dinge nur die des Erziehungsministeriums in Frage. Dieses Ministerium ist nicht in der Lage, einen brauchbaren Schulunterricht zu organisieren. Seine Belegschaft ist korrupt und desinteressiert. Unter der Ägide dieses Ministeriums könnte OFARINs Programm keinen Monat existieren.
Auch Sie, liebe Freunde, die Sie das Tun von OFARIN wohlwollend beobachten und unterstützen, werden sich jetzt verunsichert fragen: Was wird denn aus OFARIN? Vertraut sich OFARIN einem großen Geber an, wird es nach einer festgelegten Frist an den afghanischen Staat ausgeliefert, und das ist dann ein Ende mit Schrecken. Wenn sich aber kein institutioneller Geber findet, ist die Zukunft von OFARIN vor allem aus ökonomischen Gründen sehr ungewiss. Hier wird deutlich: OFARIN ist ein menschliches Konstrukt und wie alles Menschliche sterblich.
Wenn institutionelle Geldgeber die Überleitung von Programmen wie OFARIN in afghanische Strukturen erzwingen wollen, tun sie so, als ob sie den Programmen dadurch die Weiterexistenz sichern, und sprechen von „Nachhaltigkeit“. Manche Funktionäre glauben das sogar. Was sie erhalten wollen, ist die Organisationsform von OFARIN. Vielleicht wird diese in afghanischen Händen ein paar Wochen länger existieren als die inhaltliche Arbeit. Aber der Wert von OFARIN steckt in der inhaltlichen Arbeit.
Was von OFARINs Arbeit weiter lebt, lebt in den Köpfen seiner Mitarbeiter, seiner Lehrkräfte und vor allem seiner Schüler. OFARINs Schüler können ordentlich lesen und schreiben und beherrschen die Grundrechenarten. Sie planen und entscheiden rationaler als andere. Sie können Rechnungen und Verträge lesen und verstehen. Sie nehmen vieles mit, was sie für ihr Leben brauchen. OFARIN produziert diese Nachhaltigkeit durch seinen Unterricht neu. Danach lebt sie in den Köpfen weiter, unabhängig von OFARINs Existenz.
Aber gibt OFARIN nur einzelnen Menschen etwas mit? Werden die Methoden von OFARIN und die Art der Zusammenarbeit allmählich aus Afghanistan verschwinden, wenn OFARIN seine Arbeit einstellt?
OFARIN hofft, dass sein Wirken auch in afghanischen Institutionen weiterleben wird. Wir träumen davon, dass unser Programm wächst und so zu einer Herausforderung für die staatlichen Schulen wird. Je mehr Schüler OFARINs Programm besuchen, desto mehr Eltern aber auch andere Bürger, Politiker, Mullahs und Unternehmer werden fragen: „Warum lernen die Schüler in den staatlichen Schulen fast nichts, aber bei OFARIN unvergleichlich viel mehr?“ Wenn solche Fragen unüberhörbar werden, helfen wir gerne dabei mit, das staatliche Schulwesen zu reformieren. Dann könnten afghanische Schulen Unterrichtsmethoden einführen, die denen von OFARIN verwandt sind, und die den Unterricht nachhaltig verbessern.
Doch wir haben kaum Hoffnung, dass OFARIN durch die Förderung institutioneller Geldgeber so groß werden kann, um das staatliche Schulwesen Afghanistans in Frage zu stellen. Unsere ganze Hoffnung ruht auf Ihnen, liebe Freunde. Nein, Sie müssen nicht sofort nach dem Portemonnaie greifen. Es reicht, wenn Sie ihren Freunden von OFARIN erzählen: „Da gibt es ein Programm, das wirklich effiziente Entwicklungshilfe leistet – in Afghanistan, einem Land, das gemeinhin als hoffnungslos gilt. Die Organisation OFARIN, die dieses Programm durchführt, braucht auch Geld. Aber verglichen mit den Milliarden, die unser Staat oder die UNO ohne jedes Ergebnis in dieses Land reingekippt haben, ist der Aufwand von OFARIN übersichtlich und nachvollziehbar und die Ergebnisse sind erfreulich. Wenn Ihr etwas Sinnvolles in der sogenannten Dritten Welt tun wollt, so seht Euch doch mal die Homepage ofarin.de an!“
Je mehr Menschen bei OFARIN mitmachen, desto mehr kann OFARIN in Afghanistan bewirken.
Leider müssen wir zugeben, dass OFARINs Einkünfte im Augenblick nicht so sind, dass wir viel erreichen können. Im Gegenteil: Wir bangen um die Existenz. Viele, die in den vergangenen Monaten bei OFARIN mitgemacht hatten, sind von Corona betroffen – seltener rein physisch aber oft wirtschaftlich. Und wenn man selbst sehen muss, wie man über die Runden kommt, kann man sich kaum auch noch um die Alphabetisierung von Kindern und Frauen in Kabul oder Logar kümmern. Aber es sieht so aus, als ob wir in Deutschland und seinen Nachbarländern das Virus in den Griff bekommen. Auch der größte Teil der Wirtschaft wird wieder auf die Beine kommen. Wenn Sie dann plötzlich von einem Lichtstrahl vom Ende des Tunnels geblendet werden, denken Sie bitte an die Menschen in Afghanistan! Die werden noch lange brauchen, bis sie die Herdenimmunität erreicht haben oder in den Genuss von Impfungen kommen, die für sie übrig bleiben. Ihnen hat OFARIN bisher Halt und Hoffnung gegeben. Und die werden sie noch länger wirklich brauchen.
Herzliche Grüße Peter Schwittek.