Bundeskanzlerin Merkel hat in den vergangenen Wochen keine Gelegenheit ausgelassen, angesichts der Verbreitung des Coronavirus auf den Ernst der Lage zu verweisen. Im Bundestag am Donnerstag ließ sie erneut einen Kassandra-Ruf erklingen. „Zu forsch“ ist ihr in Teilen die Geschwindigkeit, in der eine Reihe von Bundesländern wie insbesondere Nordrhein-Westfalen das öffentliche Leben und die Wirtschaft wieder hochfahren.
Doch während Merkel die Länder zur Ordnung ruft, sind dort längst schon wieder neue Lockerungsübungen zur Öffnung von Hotels und Gaststätten im Gang. Das bisher gute Krisenmanagement in Deutschland droht zu entgleiten. Immer mehr verfestigt sich die Frontstellung, in der die Kanzlerin und der bayerische Ministerpräsident im Kampf gegen das Coronavirus auf andauernde Einschränkungen setzen, während Nordrhein-Westfalen mit wechselnden Verbündeten auf eine Wiederbelebung des öffentlichen Lebens setzt. Nach den herkömmlichen politischen Mustern von links und rechts lässt sich dieser Streit nicht sortieren. Vielmehr ergeben sich die unterschiedlichen Positionen aus einer komplizierten Gemengelage des Infektionsgeschehens im jeweiligen Bundesland, der wissenschaftlichen Berater der jeweiligen Staatskanzleien und – nicht zu unterschätzen – der Lobbyarbeit der Wirtschaftsverbände.
Wer mit seiner Strategie richtig liegt, wird man wohl erst im Sommer wissen. Klar aber ist: Sollten die Länder mit den schnellen Lockerungen falsch liegen, wird der Schaden größer sein als durch eine zu zögerliche Rückkehr zur Normalität. Denn wenn das Virus sich wieder verbreiten kann und es zu einer zweiten Infektionswelle kommt, wird auch ein zweiter Lockdown notwendig sein. Und der dürfte noch härter ausfallen als der erste.