US-Abzug aus Afghanistan – Teil 3: Die künftige Rolle der Taliban vs. IS – OFARINS Möglichkeiten

Vorhergehende Folgen: Teil 1, Teil 2

Liebe Freunde,

heute will ich OFARINs zukünftige Arbeitsmöglichkeiten abschätzen. Doch erst soll nachgetragen werden, was inzwischen passiert ist.

Aus Angst vor Corona ist der Wiederbeginn des Schulunterrichtes in Afghanistan um einen Monat, also auf den 21. April, verschoben worden. Auch OFARIN hat seine Klassen geschlossen. Die Entwicklung der von Corona ausgelösten Krankheit Covid 19 dürfte Afghanistan schwer treffen. Isolierungen der Menschen voneinander und wirksame Quarantäne-Maßnahmen sind kaum vorstellbar. Die Krankheit wird sich schnell verbreiten, sehr viele Opfer fordern, aber relativ schnell wieder abklingen. Dennoch wird Covid 19 bis Mitte April kaum ausgestanden sein. Der Ramazan fällt dieses Jahr auf den April und den Mai. Frühestens danach könnte die Gesundheitslage wieder normalen Unterricht möglich machen.

Wir sind nicht mehr nach Afghanistan gereist. Die deutsche Botschaft hatte alle Landsleute, die dort waren, aufgefordert, Afghanistan zu verlassen. Das bedeutete, dass man sich kräftig an den Kosten von Evakuierungen beteiligen muss, wenn man sich jetzt nicht fügte.

Sonst hat es Anschläge gegeben, insbesondere einen Überfall auf einen Sikh-Tempel in Kabul, bei dem mindestens 25 Menschen umkamen. Dafür übernahm der Islamische Staat (IS), also die Da’esch, die Verantwortung. Die stramm sunnitischen Da’esch wüten gegen alle religiösen und konfessionellen Minderheiten. Es ist denkbar, dass eigentlich Anschläge auf schiitische Neujahrsfeiern geplant waren. Das Neujahrsfest kommt aus dem alten Persien und hat vorislamische Wurzeln. Den Fundamentalisten ist es deshalb verhasst. Die afghanischen Schiiten hatten aber ihre Neujahrsfeiern nach leidvollen Erfahrungen bestens gesichert. So wurde die fromme Mordlust nach Neujahr auf die winzige Sikh-Gemeinde umgeleitet.

Der Führungsstreit auf der „Regierungsseite“ zwischen Aschraf Ghani und Dr. Abdullah Abdullah ist nicht beigelegt, aber beide Seiten bemühen sich um ein Arrangement. Auf die Regierungsseite wirken die Bedrohungen durch Taliban und Islamischen Staat disziplinierend. Vielleicht gewinnen Streitkräfte und Polizei sogar an Schlagkraft. Allerdings wird die Regierungsseite Probleme bekommen, für den ausreichenden Nachschub von Waffen und Material zu sorgen.

Die Taliban können sich in der Beziehung auf Pakistan verlassen. Sie werden in den nächsten Monaten ein stabiler Faktor in der Auseinandersetzung bleiben. Stabiler als alle Kriegsparteien ist aber die Feindschaft zwischen den Taliban und dem IS.

Es ist denkbar, dass die Taliban und die Regierungsseite sich in den beginnenden Friedensverhandlungen darauf einigen, die Da’esch gemeinsam zu bekämpfen. Der Islamische Staat hat keinen Rückhalt in der afghanischen Bevölkerung. Einen echten Partisanenkrieg kann er nicht führen. Nur einzelne von Spezialisten geplante Anschläge in großen Städten sind ihm möglich und Überfälle von pakistanischen Stammeskriegern aus den Grenzgebieten auf die Landbevölkerung. Sind es reiche Araber, die den afghanischen IS finanzieren, so werden diese an Handlungsfreiheit verlieren, da die saudische Regierung aus eigenem Interesse die Islamisten und deren Sponsoren bekämpft. Steht aber der ISI hinter den Da’esch, wird ein Bruch zwischen dem ISI und den Taliban wahrscheinlich. Auch in diesem Fall sollte es den Taliban und der Kabuler Regierung möglich sein, den IS zu vertreiben.

Es ist zu hoffen, dass ein gemeinsames Vorgehen gegen die Da’esch ein weiteres Miteinander von Regierung und Taliban fördert. Die Taliban wären dann nicht mehr von den Waffenlieferungen des ISI abhängig. Sie könnten von vielem abrücken, was sie bisher als ihre Version des Islam verbreiten. Vieles davon dient ohnehin nur dem Ziel, Afghanistan rückständig und schwach zu halten und es von anderen Ländern zu isolieren, so z.B. das Verbot des Schulunterrichts für Mädchen und der Berufstätigkeit von Frauen.

Finden sich aber die Regierungsseite und die Taliban nicht zu einer Anti-IS-Allianz zusammen, müssten die Taliban sowohl gegen den IS als auch gegen die Regierung kämpfen und sich radikal-islamistisch geben, um weiter vom ISI versorgt zu werden. Ein islamistisches Afghanistan ist aber für die meisten Nachbarn eine Bedrohung. Die müssten damit rechnen, dass die Taliban ihre Länder zu ihrer Version des Islam bekehren wollen. Länder wie China werden dann die afghanische Regierung mit Waffen versorgen, damit sie sich gegen die Taliban behaupten kann. Es werden Milizen entstehen, die Nachbarstaaten Afghanistans ergeben sind. Der Iran unterhält in vielen Ländern des Orients, vom Jemen bis zum Libanon, solche Verbände von ihm abhängiger Kämpfer und hätte sicher keine Probleme unter der schiitischen Bevölkerung Afghanistans Anhänger zu rekrutieren. Andere Nachbarn würden ebenso handeln. In diesem Fall droht ein langer Krieg.

Viele Leser gehen davon aus, dass man nicht mehr in Afghanistan arbeiten kann, wenn die Taliban an die Macht kommen. Die Herrschaft der Taliban in großen Teilen Afghanistans von 1995 bis 2001 war grausam. Menschen verschwanden spurlos. Homosexuelle wurden dadurch bestraft, dass man Lehmmauern auf sie stürzte – und das in einem Land, in dem einige Provinzen seit Jahrhunderten im Ruf stehen, dass dort die Liebe unter Männern und die mit Lustknaben floriert. Menschen wurden im Stadion öffentlich hingerichtet, nachdem die Taliban ausreichend Zuschauer angelockt hatten, indem sie ein Fußballspiel ankündigten. Ehebrecher, vor allem Frauen, wurden gesteinigt. Dieben wurden Hände amputiert. Alle weltliche Musik war verboten. Als auf einer Dorfhochzeit trotzdem musiziert wurde, erschien ein Taliban-Kommando und brach den Musikern alle Finger. Nein, die Herrschaft der Taliban war grauenhaft und verabscheuenswürdig. Wirtschaftliche Aktivitäten gab es kaum noch. Die Menschen verarmten vollkommen. Es ist nicht auszuschließen, dass eine neue Taliban-Herrschaft wieder brutal ist.

1998, also während der Taliban-Herrschaft, habe ich in Kabul die Leitung einer Hilfsorganisation übernommen. Nach einigen Wochen kam ein Imam und bat uns, in seiner Moschee Schulunterricht für Jungen und auch für Mädchen anzubieten. Schulunterricht für Mädchen war verboten. Aber der Mullah wollte den Kopf hinhalten, wenn es Ärger mit den Taliban gab. Der Unterricht und seine Inhalte lagen in unserer Hand. Wir riskierten das Abenteuer. Einige Wochen später erschienen zwei Beamte des Ministeriums für Islamische Angelegenheiten. Die fragten, was wir in der Moschee täten, in der unser Unterricht begonnen hatte. Wir erklärten es. Dann fragten sie, wer das erlaubt habe. Wir erzählten, dass der Imam uns Schreiben des Erziehungsministeriums und der Religionspolizei vorgelegt habe, die ihm erlaubten, Jungen und Mädchen in seiner Moschee zu unterrichten. Das Erziehungsministerium und die Religionspolizei hätten in den Moscheen nichts zu sagen. Das sei allein Sache ihres Ministeriums, erklärten die Beamten.

Doch“ fuhren sie fort „wir wollen sie nicht an diesem Unterricht hindern. Unser Ministerium ist nur der Ansicht, dass es viele Moschee-Gemeinden gibt, die Unterricht wie den Ihren viel nötiger haben. Der Vizeminister würde das gerne mit Ihnen besprechen und darüber einen Vertrag mit Ihnen abschließen.“

Ich verstand nichts, schloss aber den Vertrag ab. Das war der Beginn des Programms, das jetzt das von OFARIN ist. Damals, als sonst aller Unterricht für Mädchen verboten war, war dieser Unterricht eine Sensation. Er hat den Frauen und Mädchen viel Mut gemacht. Genau das hatten der Vizeminister und seine Beamten beabsichtigt. Ich begriff, dass die Taliban-Bewegung sehr heterogen ist. Es gab dort islamistische Betonköpfe aber auch Führungskräfte, die ganz anders über die Wichtigkeit von Schulen und die Bildung von Frauen dachten als ihre Führung. Liberale wie Betonköpfe, verabscheuten gemeinsam ihre pakistanischen Lehrherren.

Die Schülerzahlen schwankten um die 10.000. Mehr war mit unserem damaligen Mitteln nicht möglich. Wir arbeiteten in der Provinz Logar und in 15 Kabuler Moscheen. Beeindruckend war die Loyalität der Imame. Der Minister für Islamische Angelegenheiten hielt sich meist in Kandahar am Hofe des Taliban-Führers Mullah Omar auf. Als er nach Kabul kam und von unserem Programm erfuhr, fürchtete er in Ungnade zu fallen, und versuchte unser Programm einzuschränken. Alle 15 Imame bestärkten uns, das Programm nicht abzuändern und halfen uns, das schließlich durchzusetzen.

Diese Aufgeschlossenheit vieler Mullahs und ihre neugierige Bereitschaft mit uns zusammen zu arbeiten, überraschten mich. Auch nach dem Sturz der Taliban habe ich diese starke Loyalität und die Freude an der Zusammenarbeit in „unseren Moscheen“, d.h. in den Moscheen, in denen OFARIN aktiv ist, immer wieder erfahren. Natürlich wird es auch Mullahs geben, die nichts mit Ungläubigen zu tun haben wollen. Die haben wir aber gar nicht erst kennen gelernt.

Die Mullahs, die ich erlebte und erlebe, sind glücklich darüber, dass ein Fremder auf sie zukommt. Sonst drücken sich Ausländer an ihnen vorbei. Fremde wollen nichts mit Mullahs zu tun haben. Mullahs sind feindselig, dumm und rückständig. Eine Zusammenarbeit mit denen ist nicht möglich. Genau das hatte auch ich gedacht, als ich 1998 den Imam traf, in dessen Moschee wir dann den Unterricht begannen.

Bei den Taliban ist unsere damalige Zusammenarbeit bis heute nicht vergessen. Es wird möglich sein, mit ihnen wieder zu einer sachlichen Kooperation zu finden. In der Provinz Logar haben derzeit die Taliban die Oberhand. Ihre Schattenverwaltung inspiziert Teile unseres Unterrichts. Das können und wollen wir nicht verhindern, zumal die Taliban mit unserer Arbeit zufrieden sind. Vor einigen Wochen überraschten sie uns mit der Bitte, eine Klasse für erwachsene Frauen zu eröffnen. Leider fehlte uns das Geld dazu.

Sollten die Taliban und die Regierungsseite keinen Frieden schließen, bahnt sich ein Bürgerkrieg an. Der Verlauf ist nicht absehbar. Für einige Monate wird die Regierungsseite die Stadt Kabul und Gebiete in Zentral- und Nordafghanistan weiter kontrollieren können. Andere Nachbarländer würden sich dann mehr und mehr einmischen.

OFARIN würde den Menschen in dieser Situation beistehen, solange dadurch nicht unsere Schüler, Lehrkräfte oder Mitarbeiter gefährdet wären. Die Familien der Schüler fühlten sich nicht allein gelassen. Unterricht würde dem Leben etwas Normalität geben und den Schülerinnen und Schülern Voraussetzungen für ein Leben im Frieden. OFARIN müsste sehr flexibel handeln.

Sollte die Regierungsseite und die Taliban Frieden schließen, wäre eine gewisse Talibanisierung des Lebens nicht zu vermeiden. Diese fiele vermutlich recht milde aus. Die Taliban müssten der Regierung entgegen kommen und wären frei von den Vorgaben Pakistans.

Das Schulwesen Afghanistans hätte die Chance eines Neuanfangs, den es dringend braucht. OFARIN stünde bereit, seine Erfahrungen einzubringen und hätte gute Aussichten, danach gefragt zu werden.

OFARINs Unterricht wird bis zum Ende des Ramazan eingeschränkt bleiben. Der Bürobetrieb wird weiterlaufen. Wir werden die Zeit nutzen, um Erweiterungen des Unterrichtsprogramms vorzubereiten. Das wird mühsam werden. Ich werde hier einen englischen Text schreiben. Die Kollegen werden ihn dort übersetzen. Ich werde hier die Übersetzung lesen. Dann werden wir am Telefon überlegen, ob alles inhaltlich passt. Danach muss Material für die Vorbereitung der Lehrkräfte auf das neue Stoffgebiet entwickelt werden, auch wieder hier und dort und telefonisch. Erst wenn der Unterricht wieder läuft, sehen wir, ob die neuen Entwicklungen in der Praxis funktionieren.

Trotz der Unsicherheiten, die auf Afghanistan zukommen, blicken wir recht optimistisch in die Zukunft und halten sogar ernst zu nehmende Chancen für möglich. Das sind nicht nur frohe Träume, die wir weit weg von Afghanistan träumen. Ich telefoniere immer wieder mit den Kollegen in Kabul und die sehen das nicht anders.

Viel mehr Sorgen macht uns die wirtschaftliche Lage. Es geht OFARIN schon lange nicht gut. Jetzt setzt das Corona-Virus unserem Land, vielen Firmen, Geschäften und Einzelselbständigen zu. Plötzlich muss vielen geholfen werden. So geht es OFARIN auch. An OFARIN hängen über 30 Festangestellte und weit über 200 Lehrkräfte und sonstige Teilzeitkräfte. Die finden auch nach dem Corona-Spuk nichts anderes mehr, wenn man sie jetzt fallen lässt. Die Bundesregierung hat glücklicherweise ein starkes Progamm aufgelegt, dass helfen wird, wirtschaftlichen Schaden zu vermeiden. Aber „Whatever it takes“ hin oder her, das Regierungsprogramm reicht nicht bis zu den Hilfsorganisationen, die sich freiwillig in der dritten Welt engagieren. Bitte, vergessen Sie uns nicht!

Herzliche Grüße

Peter Schwittek.

www.ofarin.de