Wir kennen die Details der Abmachungen nicht, die der US-Präsident mit den Taliban vereinbart hat. Dass Afghanistan eine wichtige geopolitische Lage einnimmt, ist offensichtlich. Im Osten liegt China, im Westen der Iran. Es ist kaum vorstellbar, dass die USA diese Position räumen. Vermutlich haben die USA mit den Taliban ein Stationierungsabkommen geschlossen, das ihnen erlaubt, in Afghanistan Stützpunkte mit exterritorialem Status zu unterhalten – wie in Guantanamo. Die Luftwaffenstützpunkte Bagram im Osten und Schindand im Westen Afghanistans bieten sich an.
Die USA und ihre Verbündeten sollen in einem Jahr Afghanistan verlassen haben. Danach sind die Taliban und die Kabuler Regierung unter sich, und der Showdown beginnt. Die Kabuler Regierung ist bisher vom Westen mit Waffen und Geld versorgt worden. Damit wird Schluss sein. Die Taliban bekommen weiter Waffen und Geld vom pakistanischen Militärgeheimdienst ISI. Das Ende der Auseinandersetzung steht eigentlich heute schon fest.
Aber so einfach ist es nicht. Tatsächlich hat der Machtkampf längst begonnen. Neben den noch nicht abgezogenen Truppen des Westens, den Taliban und der Kabuler Regierung ist bereits ein weiterer ‚Mitspieler‘ auf dem Schlachtfeld. Viele Anschläge, die in den letzten Monaten stattfanden, gehen auf das Konto des „Islamischen Staates“ (IS). Dessen Angehörige werden im Orient als Da‘esch bezeichnet.
Afghanen haben mir folgende Version über die Entstehung dieser Bewegung erzählt: Das Vorbild der afghanischen Talibanbewegung hatte vor über einem Jahrzehnt in den Gebieten der autonomen Stämme Pakistans die Bildung einer pakistanischen Talibanbewegung angeregt. Diese wurde zu einer sehr ernsten Bedrohung für Pakistan. Dann gelang es dem pakistanischen Militär diese Taliban zurück zu drängen und ihnen andere Tätigkeitsfelder schmackhaft zu machen. Sie sollten als Da‘esch in die Grenzgebiete Afghanistans einfallen und dort Filialen des IS errichten. Waffen und Material stellte auch hier der pakistanische Militärgeheimdienst ISI. Für diese Version spricht, dass die Da’esch vor allem im Osten Afghanistans wüten, also in der Nachbarschaft der pakistanischen Gebiete, wo sie als pakistanische Taliban aktiv waren. Außerdem ist es in ihrer Heimat, also dort, wo sie als pakistanische Taliban auftraten, tatsächlich ruhig geworden.
Warum sollte sich der ISI neben den afghanischen Taliban eine weitere Organisation in Afghanistan halten, die gegen die afghanische Regierung kämpft? Nun, es ist möglich, dass die afghanischen Taliban zu störrische Partner für Pakistan sind und der ISI seine Ziele in Afghanistan besser mit dem IS verfolgen kann. Konkurrenz belebt das Geschäft.
Es ist aber auch denkbar, dass die Da’esch in Afghanistan tatsächlich von Kräften gesteuert werden, die den IS schon in Syrien und im Irak aufgebaut und finanziert hatten. Dann hätten die afghanischen Da‘esch ihren wirtschaftlichen Rückhalt in Arabien.
Auf jeden Fall gehen die Da’esch in Afghanistan äußerst brutal gegen die Bevölkerung vor. Die afghanischen Taliban sind erbitterte Feinde der Da‘esch. Zwischen den Taliban und dem IS gab es schon blutige Kämpfe. Die Taliban sehen sich, ebenso wie die afghanische Regierung, als Afghanen. Der islamische Internationalismus der Da’esch hat in Afghanistan dagegen keine emotionalen Wurzeln.
Seit ihrem Entstehen waren die afghanischen Taliban immer auf Pakistan und den ISI angewiesen. Ein herzliches Verhältnis hat sich daraus nie ergeben. Viele Taliban verachten ihre pakistanischen Gönner. Ihnen war immer bewusst, dass der ISI in Afghanistan nur pakistanische Interessen vertritt. Mullah Omar, das Staatsoberhaupt Afghanistans während der Talibanherrschaft, tauchte nach seinem Sturz unter und kam Jahre später vermutlich in Pakistan um. Es dürfte kaum Taliban geben, die daran zweifeln, dass ihr Anführer vom ISI liquidiert wurde. Mullah Omar war ein afghanischer Patriot, der für Pakistan nur mühsam zu führen war.
Die Friedensverhandlungen mit der Regierungsseite stellen die Taliban vor die Frage, was für sie das kleinere Übel ist, ein Arrangement mit der Kabuler Regierung oder die weitere Abhängigkeit von Pakistan. Die Antwort wird sehr davon abhängen, wie die Friedensgespräche laufen. Für die Taliban ist natürlich auch die Weiterführung des Krieges mit der Aussicht auf einen Endsieg verlockend, und die pakistanischen Militärs werden sie in dieser Vision bestärken. Allerdings wäre eine Vereinbarung mit der Regierungsseite bald zu haben, während bis zu einem militärischen Sieg noch unkalkulierbar viel Zeit nötig ist. Bis dahin dürften sich weitere „Player“ auf dem Schlachtfeld eingefunden haben. Die Da’esch sind ohnehin schon da. Das würde auf eine weitere Abhängigkeit der Taliban von Pakistan hinauslaufen.
Wenn man von der Seite der afghanischen Regierung spricht, fällt einem sofort die Präsidentschaftswahl ein. Die hatte im Herbst 2019 bei geringer Wahlbeteiligung stattgefunden, denn die Taliban hatten die Bürger, die wählen wollten, massiv bedroht. Bei der Wahl und der Auszählung kam es zu zahlreichen Unregelmäßigkeiten. Es gab etliche Einsprüche. Ergebnisse wurden nicht veröffentlicht. Als jetzt die Verhandlungen der USA mit den Taliban vor dem Abschluss standen und Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und den Taliban beginnen sollten, gab die Wahlkommission plötzlich doch Ergebnisse bekannt. Der bisherige Präsident Aschraf Ghani habe knapp die absolute Mehrheit erreicht. Zweiter sei Dr. Abdullah Abdullah mit etwas weniger als 40 Prozent der Stimmen geworden.
Schon 2014 hatten Aschraf Ghani und Dr. Abdullah die meisten Stimmen gewonnen. Auch damals gab es sehr viele Beanstandungen. Damals wurde gemeldet, keiner von beiden habe die absolute Mehrheit erreicht. Eine Stichwahl wurde nötig. Anhänger von Dr. Abdullah drohten auf Kabul zu marschieren, was sie aber angesichts der ausländischen Truppen nicht wagten. Damals griff der US-Außenminister John Kerry ein und konnte die Matadore zur Zusammenarbeit überreden. Aschraf Ghani wurde Staatspräsident und Dr. Abdullah wurde Regierungsgeschäftsführer. Ein offizielles Ergebnis der Stichwahl wurde nie bekannt gegeben.
2020 wurde also ein offizielles Wahlergebnis aus dem Hut gezaubert, als eine afghanische Regierung gebraucht wurde, die mit den Taliban Friedensverhandlungen führen sollte. Aschraf Ghani und Dr. Abdullah erklärten sich beide zu Siegern und ließen sich zur gleichen Zeit als Staatspräsidenten vereidigen. Darauf setzte Aschraf Ghani seinen Gegner als Regierungsgeschäftsführer ab und entfernte ihn aus allen Ämtern. Aschraf Ghani hatte das Problem scheinbar rechtzeitig und entschlossen gelöst. Ob er das tatsächlich hat, wird sich zeigen. Dr. Abdullah vertritt, grob gesagt, die nicht-paschtunischen Teile der afghanischen Bevölkerung. Wenn es überhaupt ruhig bleibt, wird Aschraf Ghani nicht auf die Loyalität aller Afghanen zählen können. Aschraf Ghani ist Paschtune und die Taliban sind ohnehin paschtunisch dominiert. Viele afghanische Tadschiken, Usbeken, Turkmenen und Schiiten müssen glauben, dass es bei den Friedensverhandlungen um die Vorherrschaft verschiedener Clans der Paschtunen geht.
Diesmal vermittelt kein US-Außenminister. Auch die internationalen Streitkräfte, die sich auf ihren Abzug vorbereiten, werden kaum noch in Auseinandersetzungen zwischen Anhängern von Aschraf Ghani und Dr. Abdullah eingreifen wollen. Dagegen dürften die Verhandlungen mit den Taliban disziplinierend auf die Regierungsseite wirken. Diese muss jetzt geschlossen handeln und mit einer Stimme sprechen. Für viele auf der Regierungsseite könnte eine Machtübernahme der Taliban lebensgefährlich werden.
Die Nachbarländer werden die Entwicklungen in Afghanistan nicht gleichgültig sehen. Dem Iran, China, Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan ist es eine Horrorvision, dass in ihrer Nachbarschaft eine radikal-islamische sunnitische Bewegung an die Macht kommt. Schon heute dürften einige dieser Länder begonnen haben, in Afghanistan kriegerische Kontingente aufzubauen. Es gab schon lange iranische Taliban in Afghanistan. Ja, selbst die USA hielten oder halten sich eigene Taliban. Solange westliche Truppen die Kabuler Regierung stabilisierten, konnten sich die Nachbarländer zurückhalten. Das ändert sich jetzt. Es dürfte diesen Nachbarn leichtfallen, in Afghanistan Anhänger zu rekrutieren, die sich sowohl gegen die Taliban als auch gegen die Kabuler Regierung wehren wollen. Man kann nur hoffen, dass Wladimir Putin keine Phantomschmerzen angesichts früherer Größe überkommen.
Führungskräfte, die eine Stammeskultur wie die afghanische hervorbringt, sind sehr selten dazu in der Lage, miteinander konstruktiv zu kooperieren. Realistische Kompromisse fallen ihnen schwer. Und den pakistanischen Geheimdienst ISI muss man sich immer als Schwergewicht am Verhandlungstisch mitdenken. Daher bin ich eher skeptisch hinsichtlich der Friedensverhandlungen. Die Verhandlungen werden sich hinziehen. Während die ausländischen Truppen abrücken, wird es immer mehr kriegerische Zusammenstöße zwischen den Taliban und Regierungstruppen geben. Die anderen ‚Mitspieler‘ auf dem Schlachtfeld werden zahlreicher und mächtiger werden. Die Position Pakistans wird stärker. An Frieden ist nicht mehr zu denken. Viele Menschen werden verzweifelt versuchen, in andere Länder zu fliehen.
Abdul Hussain, unser Büromanager in Kabul, ist optimistischer. Er kann sich vorstellen, dass sich Dr. Abdullah und Aschraf Ghani schnell arrangieren und dass sich die Regierung mit den Taliban verständigen wird. Ich fürchte, dass Abdul Hussain, selber ein schiitischer Hazara, sich von den idyllischen Zuständen bei OFARIN täuschen lässt, wo sich die verschiedenen Ethnien gut vertragen und unser Unterricht auch in Taliban-Gebieten willkommen ist. Dennoch wünsche ich uns allen, dass er Recht behält.
Corona
So wichtig die Friedensverhandlungen für die Menschen in Afghanistan sind, sie sind derzeit bei weitem nicht das wichtigste Thema dort. Wie bei uns bestimmt das Corona-Virus das Denken der Bevölkerung. Das Nachbarland Iran ist stark von der Infektion betroffen. Viele Afghanen arbeiten im Iran, kommen jetzt zurück und verbreiten die Seuche. Die Diagnose der Krankheit ist Glückssache. Niemand ist in der Lage, die Verteilung der Krankheit abzuschätzen. Die Regierung macht keine Angaben darüber. Sie kann es einfach nicht. Das verstärkt die Furcht. Niemand kann Maßnahmen durchsetzen, die die Bewegungsfreiheit einschränken. Wo Quarantäne verordnet wird, wird sie nicht eingehalten.
Auch in Afghanistan gibt es Hamsterkäufe. Doch hier schlagen sie auf die Preise durch, denn zügiger Nachschub an Lebensmitteln und Hygieneartikeln ist in diesem Land nicht gewährleistet. Die Krise kommt zu einer sehr ungünstigen Jahreszeit. Die neue Ernte kommt erst in einigen Monaten auf den Markt.
Die Afghanen stehen vor gefährlichen Ungewissheiten. Über die politischen Entwicklungen kann man spekulieren. Sie möchten natürlich wissen, welche Zukunft OFARIN in diesem Szenario haben kann. Dazu muss man auf die Basis der bisher gemachten Spekulationen weitere Spekulationen setzen. Das wird sich nicht in einigen Sätzen erledigen lassen. Deshalb soll diesen Monat sogar ein dritter Rundbrief verschickt werden, in dem es um die Möglichkeiten geht, die unser Programm haben kann.
Am 21. März beginnt ein Neues Jahr in Afghanistan. Mögen Hoffnungen, die wir damit verbinden, in Erfüllung gehen!
Herzliche Grüße
Peter Schwittek