Liebe Freunde,
Diesmal melde ich mich früh im Monat. Wir werden in diesem März zwei Rundbriefe verschicken. Es gibt viel zu sagen. Der US-Präsident setzt seine Ankündigung durch, seine Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Die Folgen dürften erheblich sein. Hier will ich nur die jüngere Geschichte Afghanistans darstellen, um im zweiten Rundbrief die Möglichkeiten für die Zukunft besser erläutern zu können.
Im Frühjahr 1978 putschten sich afghanische Kommunisten an die Macht und etablierten ein Schreckensregime. Dagegen erhob sich militärischer Widerstand der Bevölkerung. Die Teilnehmer am Widerstand nannten sich Mudschaheddin. Um die Kommunisten an der Macht zu halten, aber auch um die afghanischen Genossen, deren brutales Treiben den Ruf der kommunistischen Weltbewegung schädigte, an die Kandare zu nehmen, griff die Sowjetunion zum Jahreswechsel 1979/80 mit eigenen Truppen ein. Im kalten Krieg galt die Regel, dass die Hauptakteure – die NATO und der Warschauer Pakt – ihre Einflussgebiete nicht durch Einsatz ihrer Truppen ausdehnen durften. Diesen Grundsatz hatte die Sowjetunion gebrochen. Der Westen reagierte darauf, indem er die Mudschaheddin mit Waffen, Material und Geld unterstützte. Diese Hilfsmittel konnten Afghanistan nur über Pakistan erreichen, so dass dieses Land großen Einfluss auf den afghanischen Widerstand gewann. Auch islamische Freiwillige aus verschiedenen Ländern beteiligten sich am Krieg gegen die Kommunisten und radikalisierten sich gegenseitig in ihrer Kämpfergemeinschaft von Ausländern.
Der Sowjetunion wurde die Last dieses Krieges zu schwer. Sie zog ihre Truppen 1989 ab, unterstützte aber die afghanischen Kommunisten noch materiell bis sie sich Ende 1991 selbst auflöste. Im Frühjahr 1992 gab die kommunistische afghanische Regierung auf. Die Mudschaheddin zogen als Sieger in Kabul ein. Diese Sieger waren in verschiedene Parteien zersplittert. Das entsprach der Struktur der afghanischen Stammesgesellschaft. Deren verschiedene Völker, Stämme und Sippen lebten seit Menschengedenken in Konkurrenz, Misstrauen und Feindschaft zueinander. Ein blutiger Bürgerkrieg der Mudschaheddin-Parteien brach aus.
Als sich die Briten 1947 aus Britisch-Indien zurückzogen, hinterließen sie mit Indien und Pakistan zwei bitter verfeindete Nachfolgestaaten. Pakistans Staatsgebiet ist recht schmal. Im Kriegsfall könnte Indien Pakistan durchstoßen und so besiegen. Wenn Pakistan Afghanistan beherrschte, hätte das gemeinsame Territorium eine strategische Tiefe für einen Krieg mit Indien. Pakistanische Truppen könnten sich nach Afghanistan zurückziehen und von dort einen Gegenschlag führen. Ein starkes, selbständiges Afghanistan, das sich mit Indien verbündet, wäre für Pakistan eine lebensgefährliche Bedrohung. Dieses Szenario ist durchaus realistisch. Afghanistan hat seine Grenzen zu Pakistan nie anerkannt und stellt Gebietsforderungen an Pakistan. Um diese Ansprüche zu untermauern, hatte Afghanistan früher separatistische Bewegungen in Pakistan unterstützt.
Als sich die Sowjetunion auflöste, wurden zentralasiatische Länder wie Usbekistan, Turkmenistan oder Kasachstan frei, die seit 70 Jahren vom Handel mit dem Westen abgeschnitten waren. Pakistan hätte sie gerne als Handelspartner gewonnen. Doch diese Länder waren für Pakistan nur über Afghanistan erreichbar. Pakistan brauchte ein ruhiges, befriedetes Afghanistan.
Deshalb schuf Pakistan 1993 die Taliban-Bewegung als eine weitere Partei im afghanischen Bürgerkrieg. Sie sollte Afghanistan befrieden und von Pakistan abhängig machen. Die Taliban waren größtenteils Afghanen, die bisher in Flüchtlingslagern in Pakistan gelebt hatten. Auch islamische Freiwillige, die gegen die Kommunisten gekämpft hatten, z.B. heimatlose Tschetschenen, aber auch arabische Islamisten wie Osama bin Laden, schlossen sich den Taliban an. Die Bewaffnung und sonstige Ausstattung der Taliban finanzierte das pakistanische Militär mit Geldern die es von den USA bekam. Pakistan verfügte inzwischen über eine eigene Atombombe. Man fürchtete, dass das pakistanische Militär diese Bombe Islamisten überlassen könnte. Die USA zahlen daher jährlich hohe Zuwendungen an das pakistanische Militär, um dieses kooperativ zu stimmen. Dieses Schutzgeldverhältnis nennen die Beteiligten eine strategische Partnerschaft. Pakistan finanzierte mit den reichlichen Zuflüssen den Aufbau der Taliban-Bewegung in Afghanistan, auch wenn das kaum im Sinne der USA war.
Pakistan schuf für die Taliban eine radikale islamische Ideologie, die deutlich über die traditionelle Religionsausübung der afghanischen Bevölkerung hinausging. Frauen, mit Ausnahmen von Ärztinnen und Krankenschwestern, durften nicht arbeiten. Sie mussten sich sehr strikten Kleidervorschriften unterwerfen. Mädchen durften nicht in die Schule gehen. Männer durften sich nicht rasieren oder auch nur den Bart stutzen. Alle nichtreligiöse Musik war verboten.
Im Bürgerkrieg war die Taliban-Bewegung zunächst erfolgreich. In ihrem Herrschaftsgebiet sorgte sie für Frieden. Die Bevölkerung hatte genug von den Mudschaheddin, die zu Räuberbanden verkommen waren. 1996 eroberten die Taliban Kabul. Aus dem Nordosten des Landes konnten sie die Mudschaheddin jedoch nicht vertreiben. Die Wirtschaft Afghanistans lag danieder. Die Menschen, besonders die Frauen, litten unter den rigorosen Regeln, die die Taliban brutal durchsetzten.
Einige reiche Araber gewannen Einfluss auf die Taliban-Bewegung, da der andauernde Krieg gegen die Mudschaheddin erhebliche Mittel verschlang. Osama bin Laden steuerte islamistische Anschläge von Afghanistan aus, so 1998 auf die US-Botschaften in Dar-es-Salam und Nairobi. Die USA verlangten die Auslieferung des Arabers. Die Taliban verweigerten sie. Am 11. September 2001 fanden die Anschläge in den USA statt. Wieder lehnten die Taliban die Auslieferung bin Ladens ab. Daraufhin gab der UN-Sicherheitsrat den USA das Recht, sich militärisch zu wehren, sprich: Afghanistan anzugreifen. Die US-Luftwaffe bombardierte im ganzen Land Liegenschaften, in denen sich Taliban aufhielten, sowie die Stellungen an der Kriegsfront mit den Mudschaheddin. Die Taliban flüchteten nach Pakistan. Die Mudschaheddin rückten nach und besetzten Kabul.
Die internationale Gemeinschaft wollte Afghanistan beim Aufbau eines demokratischen Staatswesens helfen. Man wollte das Land nicht wie 1992, als die Kommunisten aufgaben, den Mudschaheddin-Parteien überlassen. Deren Anführer waren meist noch die gleichen wie 1992, Herren mit dem Niveau von Räuberhauptleuten.
Die internationale Militärmission ISAF wurde geschaffen. Zu dieser gehörten anfangs keine amerikanischen Soldaten. Die ISAF sicherte die Auswahl eines vorläufigen Staatsoberhauptes, die Wahl des eigentlichen Staatsoberhauptes, die Wahl eines Parlamentes und den Aufbau von Ministerien und Ämtern, und auch die Wiedereröffnung der Mädchenschulen. Die Mudschaheddin-Parteien blieben ruhig.
Zu erwähnen ist, dass Hamid Karzai dank massiver Einflussnahme des US-Sonderbotschafters Khalilzad vorläufiges Staatsoberhaupt von Afghanistan wurde. Danach war kaum zu verhindern, dass Karzai auch das eigentliche Staatsoberhaupt wurde. Die Regierung Bush hielt Karzai für einen leicht steuerbaren Partner. Das war er nicht. Aber für den zivilen Neuaufbaus des Staates hätte es einer wesentlich stärkeren Persönlichkeit bedurft. Die Regentschaft Karzais bescherte dem Land zwölf Jahre Stagnation und das Aufblühen der Korruption. Der afghanischstämmige Khalilzad, der 2001 nach den Wünschen von Präsident Bush jun. die Weichen in Afghanistan stellte, führte 2019 und 2020 für Präsident Trump die Verhandlungen mit den Taliban.
Noch während der Vertreibung der Taliban rückten US-Bodentruppen in Afghanistan ein, die sich „Enduring Freedom“ nannten. Zu diesen gehörten auch kleine Kontingente anderer Länder, z.B. Angehörige der deutschen KSK. Diese Truppen hatten den diffusen Auftrag „gegen den Terrorismus zu kämpfen“. Sie wurden in den von Paschtunen bewohnten Gebieten Afghanistans eingesetzt, denn die Taliban-Bewegung war überwiegend vom Volk der Paschtunen getragen worden. Die Enduring Freedoms suchten nach Taliban-Führern und anderen Terroristen. Sie gingen rücksichtslos und unsensibel gegen die Bevölkerung vor, tasteten Frauen nach Waffen ab, bombardierten Gehöfte weg, in denen sie Islamisten vermuteten, und waren nicht zimperlich beim Einsatz ihrer Waffen. Belastete Taliban oder gar Islamisten wurden praktisch nicht gefunden. Es scheint, dass Enduring Freedom das amerikanische Bedürfnis nach Rache für die Überfälle vom 11. September 2001 befriedigen sollte. Man wollte es denen, die eine Mitschuld an der Katastrophe trugen, zeigen, und in ihren Siedlungsgebieten die Sau rauslassen.
Enduring Freedom sorgte für viel Verbitterung, Feindschaft und für das Bedürfnis vieler Betroffener, sich an den amerikanischen Besatzern zu rächen. Bald gab es genug Menschen, um die Taliban-Bewegung wiedererstehen zu lassen. Pakistan hatte weiterhin die nötigen Mittel und seine Militärs hatten weiterhin ausreichend Gründe, eine solche Bewegung zu fördern. Die USA drängten darauf, die westlichen Truppen zusammen zu führen, so dass sie schließlich alle, auch die Amerikaner, als ISAF firmierten.
Die ISAF hatte in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung einen Zeitraum für den zivilen Aufbau Afghanistans geschaffen. Enduring Freedom hat dafür gesorgt, dass der Zeitraum, in dem sich ziviles Leben hätte entwickeln können, nur sehr kurz war.
Es ist aber zu bezweifeln, dass der zivile Aufbau Afghanistans gelungen wäre, wenn viel mehr Zeit zur Verfügung gestanden hätte. Die Aktivitäten der internationalen Gemeinschaft, ihrer staatlichen, halbstaatlichen und privaten Organisationen brachen nach der Vertreibung der Taliban chaotisch über Afghanistan herein. Ein Gesamtkonzept gab es nie. Erst nach Jahren ordnete man die Aufgabenbereiche recht unverbindlich verschiedenen Ländern zu.
Die Finanzierung des afghanischen öffentlichen Diensts wurde und wird bis heute überwiegend von der internationalen Gemeinschaft getragen. Man hätte daher die afghanische Verwaltung nach modernen Gesichtspunkten aufbauen können und müssen, nämlich als Dienstleistungsagentur für die Bürger Afghanistans. Doch nichts geschah. Die Beamtenschaft, die nach Krieg und Bürgerkrieg noch übrig war, wurde mit dem Gefolge von Kriegsfürsten und sonstigen Machthabern aufgefüllt. Ein Bewusstsein für Aufgaben oder Pflichten hatte dieses Bürokratengemisch nicht. Auch in Fachministerien, wie z.B. im Erziehungsministerium, weiß man nicht, wozu man da ist. Man hat keine Ahnung, wie menschliches Lernen und Verstehen funktioniert und wie man deshalb Schulen organisieren müsste. Kurz: Das Erziehungsministerium „kann keine Schulen“. Für Gesundheits- und Wissenschaftsministerium gilt Entsprechendes. Die Institutionen des afghanischen Staates vegetieren vor sich hin, ohne zu wissen, was ihre Aufgabe ist. Viele Beamten sehen in der Korruption den einzigen Sinn ihrer Beschäftigung. Alle Mühen, Afghanistan beim Neuaufbau zu helfen, sind auf Zusammenarbeit mit dieser Bürokratie angewiesen. Sie bauen auf Treibsand. In den Institutionen der westlichen Länder, die den afghanischen Neuaufbau von Ferne durch die Verteilung von Geldern steuern, herrscht eine erschreckende Unkenntnis über die Bedingungen Afghanistans. Naiv schließt man von gleichen Titeln in Deutschland und Afghanistan auf die gleichen Kompetenzen und Dienstauffassungen: Ein Ministerium dort ist wie ein Ministerium hier; ein Regierungsdirektor ist hier wie dort ein Regierungsdirektor; eine Schulleiterin ist eine Schulleiterin; ein Vorgesetzter ist ein Vorgesetzter; ein Professor ist ein Professor; eine Universität ist eine Universität; ein Krankenhaus ist ein Krankenhaus. Wer die Welt so sieht und sich nicht in die abgrundtiefen Unterschiede von dort und hier hineindenken kann, handelt zwangsläufig verantwortungslos.
Die Lage in Afghanistan wird sich ändern. Der amerikanische Präsident hat beschlossen, die US-Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Die anderen ausländischen Militärkontingente werden sich anschließen. Das wird die Kräfteverhältnisse verändern und die zivilen Hilfsaktivitäten beeinträchtigen. Hier wollte ich nur die jüngste Vergangenheit Afghanistans zusammenhängend darstellen. Darauf aufbauend will ich in den nächsten Tagen in einem zweiten März-Rundbrief über die Zukunft Afghanistans und über die Möglichkeiten des weiteren Engagements von OFARIN nachdenken.
Herzliche Grüße Peter Schwittek.
Fortsetzung:
Teil 2 – Wer sind die ‚Spieler‘ um die Macht in Afghanistan? – Corona in Afghanistan