Liebe Freunde,
wir sind zurück aus Kabul. Es gab Probleme wegen unserer Arbeitserlaubnis. Diese brauchen wir für längerfristige Visa. Solche Visa konnten wir also nicht bekommen. Außerdem ist mein Knie noch nicht ausgeheilt und kann in Deutschland besser behandelt werden. So waren wir nur sechs Wochen in Afghanistan.
Gegen Abschluss unseres Aufenthaltes mussten wir ein Projekt aufgeben. In Charikar hatten wir uns seit dem Frühjahr um vier Klassen bemüht. Wir hatten dort ein Seminar gehalten, mussten aber beim Besuch des Unterrichts einsehen, dass die Lehrkräfte fast nichts verstanden hatten. Daraufhin gaben wir Kabuler aus dem OFARIN-Büro den Schülern und Lehrern in Charikar einige Tage lang Unterricht. Darauf folgte wieder ein Seminar für die Lehrer und den Trainer in Charikar. Langsam wurde es besser. Am besten verstand der lokale Trainer, worum es uns ging.
Dann fiel eine Lehrerin aus und musste ersetzt werden. Ersetzen bedeutet, dass die neue Lehrkraft in zusätzlichen Seminaren geschult werden muss, bis sie in etwa das kann, was die anderen Kollegen bisher gelernt haben. Einer der Lehrer, ein älterer Mullah, tat sich mit unseren Methoden besonders schwer. Es war ihm wohl auch eine Zumutung, sich wie die jüngeren Kollegen in das zu fügen, was ihm da aufoktroyiert werden sollte. Wir gaben uns viel Mühe, aber er schaffte es nicht. Wir schlugen vor, dass er in einigen Klassen nur Religionsunterricht geben soll. Von der Zeitplanung her wäre das schwer umzusetzen gewesen. Und er wollte es auch nicht. So mussten wir für den Mullah ebenfalls Ersatz schulen. Dann fand der lokale Trainer eine Stelle im Staatsdienst. Ein Nachfolger wurde auf die Arbeit bei uns vorbereitet.
Insgesamt wurden durchaus Fortschritte gemacht. Aber der Aufwand für nur vier Klassen war erheblich. Charikar liegt gut 60 km von Kabul entfernt. Die Fahrt auf der verkehrsreichen Fernstraße, zumal am frühen Morgen oder in der Abenddämmerung ist nicht ohne Risiko. Alle Seminare zwecks Vorbereitung des Unterrichts fanden in Charikar statt, weil man die jungen Lehrerinnen nicht einfach nach Kabul bringen konnte. Noch mehr Aufwand an Betreuung des Unterrichts in Charikar konnten wir uns nicht leisten.
In der letzten Versammlung aller Trainer vor unserer Abreise berichtete auch der Trainer aus Charikar. Ich wollte wissen, bis zu welchem Buchstaben die einzelnen Klassen bei der Alphabetisierung gekommen seien. Alle Klassen hätten das gesamte Alphabet durchgenommen, berichtete der Trainer stolz. Im Allgemeinen benötigen OFARINs Klassen für das Dari-Alphabet ein Jahr. Unsere Freunde in Charikar hatten nach allen Vorbereitungen und Lehrerwechseln höchstens vier Monate unterrichten können. Das konnte nicht reichen. Ich äußerte massive Zweifel. Als wir unter uns waren, entschied Abdul Hussain, noch am gleichen Tag den Unterricht der beiden Nachmittagsklassen in Charikar zu besuchen. Es war wie befürchtet. Die Schüler beherrschten höchstens Bruchstücke des Stoffes. Viele konnten einige Buchstaben nicht einmal schreiben. Wörter konnten sie kaum lesen.
Unsere Lehrkräfte in Charikar hatten das gemacht, was sie ihren eigenen Lehrern in den staatlichen Schulen abgeschaut hatten. Dort nehmen Lehrer von Parallelklassen ihre Aufgabe sportlich und liefern sich Wettrennen. Jeder will den vorgegebenen Stoff am schnellsten durchnehmen. Jeder beobachtet wie weit die Kollegen sind. Die Qualität des Unterrichtes ist bei dieser Hatz Ballast. Auch das Erziehungsministerium hat seinen Lehrern ein massives Hindernis von der Rennbahn geräumt. Staatlichen Lehrern ist es untersagt, Rücksicht auf das Begreifen der Schüler zu nehmen. Ja! Sie haben richtig gelesen. Lehrer dürfen nicht dafür sorgen, dass ihre Schüler verstehen.
In den Anweisungen für OFARINs Lehrkräfte steht, dass der Lehrer dafür sorgen muss, dass alle Schüler den Stoff beherrschen. Das ist schon deshalb nötig, weil OFARINs angelernte Lehrkräfte nicht geschult sind, Schüler mit ungleichem Wissensstand zu unterrichten. OFARINs Unterrichtsmaterial schreibt für jeden Buchstaben vor, wie die Aussprache geübt werden soll, welche Beispielwörter besprochen werden müssen, wie der Buchstabe mit anderen Buchstaben zu verbinden ist, und vieles mehr. Das alles erfordert Zeit, in der Regel ein Jahr. Die Lehrkräfte in Charikar hatten unsere ausführlichen Anweisungen dem Wettrennen geopfert.
Die Mitarbeiter der OFARIN-Zentrale hatten die Fehlentwicklung in Charikar nicht erkannt. Sie waren oft dorthin gereist um Fortbildungen durchzuführen. Den Unterricht hatten sie zu wenig beobachtet.
Das Programm für Charikar war nicht reparierbar. Es hätte weniger Aufwand gekostet, neue Lehrer auf den Unterricht vorzubereiten und ganz andere Schüler zu unterrichten, als die bisherigen Lehrer und Schüler zu korrekten Methoden und Kenntnissen zu führen. Die Lehrer von Charikar beschimpften unsere Kabuler Trainer auch noch dafür, dass sie sich herausnahmen, ihnen zu sagen, wie sie unterrichten sollen. Das erleichterte den Abschied. Dass wir das Unterrichtsprogramm in Charikar aufgeben, hatten wir schon vorher entschieden.
Sonst war dieser Aufenthalt in Afghanistan einfach erfreulich. Wir konnten die Finanzberichte für das zweite und dritte Quartal 2019 erstellen. Nie hatten wir solche Finanzverwalter in unserem Büro. Die können sich an jede Transaktion erinnern. Die Verwaltung der Lager für das Unterrichtsmaterial im Zentralbüro und in den einzelnen Unterrichtsgegenden funktioniert so, wie wir es im Frühjahr eingerichtet hatten. Ein Trainerteam aus dem Hauptbüro besuchte fast jeden Tag den Unterricht in Kabul, in Pandschir und bis zu unserer Abreise auch in Charikar. Immer wenn das Team zurückkam, haben wir alles gründlich besprochen. Alle zwei Wochen kamen aus allen Gegenden die Trainer und berichteten.
Leider ist Helen, die in Deutschland die Homepage betreut, schwer erkrankt. Die erwähnten Quartalberichte über die Finanzen haben es daher nicht bis in die Homepage geschafft. Auch die Versendung der Kurzmeldungen, mit Instagram und Facebook stagnierte wegen der Erkrankung von Helen.
Aber in Afghanistan waren wir begeistert, wie gut alles zusammenpasst. Alle Probleme wurden in aller Ruhe und Freundschaft ausdiskutiert. Jeder trägt bei. Die Trainerin Tobah hatte sich bisher zurückgehalten und sich etwas hinter ihrer Freundin Nassibah versteckt. Jetzt will sie gerne eine Dari-Ausgabe der erwähnten Kurzmeldungen auf Facebook und Instagram aufbauen und betreuen. Wenn Helen wieder auf den Beinen ist, werden wir darauf zurückkommen.
Wir verhehlten nicht, wie sehr wir uns freuten, dass alle so engagiert bei der Sache sind, obwohl OFARINs Zukunft unsicher ist und allen nur dürftige Notlöhne gezahlt werden. Darauf brachte Abdul Hussain die Haltung unserer afghanischen Kollegen auf den Punkt: „Unsere Leute arbeiten nicht fürs Geld, die arbeiten aus dem Herzen heraus.“
Peter Schwittek.
Weitere Infos unter www.OFARIN.de