Oktober-Rundbrief aus Afghanistan: Über die Korruption

Liebe Freunde,

wir – Anne Marie und ich – sind wieder in Kabul. Mein Knie ist noch ziemlich steif. Es müsste noch behandelt werden. Aber auch in Kabul lag einiges an. Wir mussten endlich die Quartalsberichte für den Sommer und den Herbst fertig machen und in die Homepage setzen. Ich wollte das nicht von Deutschland aus erledigen, sondern zusammen mit unseren Herren im Kabuler Finanzbüro. Das war gut so. Die beiden wussten bis ins Detail Bescheid und haben mir Fehler erspart. Wir haben jetzt wirklich großartige Leute in der Finanzverwaltung.

Außerdem brauchten wir ein neues Jahresvisum. Dazu muss OFARINs Büro einen Brief an unser Partnerministerium schreiben. Das verfasst dann einen Brief ans Außenministerium und dieses einen ans Innenministerium. Das Innenministerium weist darauf das Passamt an, alles zu überprüfen und Visa in unsere Pässe zu kleben. Unsere Mitarbeiter müssen die genannten Briefe jeweils von der ausstellenden Behörde zur nachfolgenden Behörde bringen.

Beim Passamt mussten wir bisher frühmorgens persönlich erscheinen, um die Unterlagen für die Erteilung des Visums vorzulegen. Am Nachmittag konnte dann ein Mitarbeiter die Pässe mit Visum vom Passamt holen. Doch das letzte Mal sagte man uns, dass wir in Zukunft nicht mehr persönlich zum Passamt kommen müssen. Die Unterlagen könne auch ein Mitarbeiter vorlegen. Nur noch Inder und Pakistaner müssen persönlich erscheinen. Das hörte sich gut an. Ein Mitarbeiter brachte unsere Pässe und die sonstigen Unterlagen frühmorgens dorthin. Als er zurückkam, teilte er uns mit, dass wir noch eine Arbeitserlaubnis vorlegen müssen, bevor man uns ein Visum ausstellen dürfe. Solange wir selber dort erschienen waren, hatte man uns nie nach einer Arbeitserlaubnis gefragt. Das schien ein Zeichen von Respekt zu sein.

Wir brauchten also Arbeitserlaubnisse. Ich muss Sie mit einer Geschichte belästigen, die ich schon in einem vorangehenden Rundbrief begonnen hatte. Doch zunächst machen Sie sich bitte klar! Wir kommen freiwillig nach Afghanistan, um hier etwas für die Bevölkerung zu tun. Dazu brauchen wir jeder eine Arbeitserlaubnis, die jährlich 150 € kostet. Eine Arbeitserlaubnis erlaubt uns, ein Arbeitsverhältnis einzugehen und Geld zu verdienen. Aber uns bezahlt hier niemand.

Schon im Frühjahr hatten unsere Kollegen versucht, für uns Arbeitserlaubnisse zu bekommen, denn die braucht man auch, um Geld von der Bank abzuheben. Sie waren deshalb mehrfach im Arbeits- und Sozialministerium gewesen. Der Abteilungsleiter, der die Erlaubnis schließlich mit seinem Stempel bewilligt, hatte ihnen freundlich erklärt, was sie vorlegen müssten. Wenn sie das brächten, bekämen sie die Arbeitserlaubnisse unverzüglich. Ja, sie sprachen sogar mit dem Minister darüber. Der sah sofort ein, dass, wenn wir in Afghanistan nicht arbeiten dürften, OFARIN geschlossen werde. Ohne OFARIN würden gut 30 Festangestellte und 300 Teilzeitkräfte arbeitslos. Über 3000 Schüler hätten keinen Unterricht mehr. Der Minister schrieb unter unser Antragsschreiben die Order, die Arbeitserlaubnisse zu erteilen. Als Arbeitsminister hat er schließlich für Arbeitsplätze zu sorgen.

Mit diesen schönen Papieren liefen zwei Mann von uns zum Abteilungsleiter. Innerhalb des Ministeriums kamen sie an einer Putzfrau vorbei. Die fragte, was sie wollten. „Wir holen für unsere Chefs die Arbeitserlaubnisse ab.“ „Wenn Ihr die haben wollt, müsst Ihr mir ein ordentliches Schmiergeld zahlen. Sonst bekommt Ihr nichts.“ Unsere Leute hielten das für einen Scherz und liefen weiter zum Abteilungsleiter. Doch der war vollkommen verwandelt und meinte, er könne uns keine Arbeitserlaubnis geben, da wir zu alt seien. Der Einwand, dass das mit dem Minister besprochen sei, zog nicht. „Der Minister steht auch nicht über dem Gesetz.“ beschied der Abteilungsleiter.

Die Putzfrau und der Abteilungsleiter stecken offenbar unter einer Decke. Sie ist eine gute Bekannte von Dr. Abdulla Abdullah, der zusammen mit Aschraf Ghani den Staat regiert. Niemand kann ihr etwas anhaben. Der Abteilungsleiter kann nicht offen Schmiergeld verlangen, ohne sich zu gefährden. Wenn die Putzfrau das tut, belangt sie keiner. Aber sie kann einem Bittsteller nur einen Wassereimer in den Weg stellen, wenn sie ihm Schwierigkeiten machen will. Sich einfallen lassen, weshalb man ein Gesuch leider ablehnen muss, das ist seine Sache. Da hat er Übung. Nur das Stichwort „Schmiergeld“, das muss sie aussprechen. Zusammen bilden sie ein starkes Gespann.

Diesen Teil der Geschichte kannten Sie aus einem älteren Rundbrief. Damals schüttelten wir den Kopf und verzichteten auf eine Arbeitserlaubnis. Die brauchten wir ja nur zum Geldabheben von der Bank. Das konnten auch unsere afghanischen Kollegen erledigen.

Doch jetzt ging es um die Aufenthaltsvisa, die wir nur mit Arbeitserlaubnis bekommen konnten. Ich begleitete meine Kollegen ins Arbeitsministerium. Als wir schließlich beim Abteilungsleiter ankamen, war der wieder ganz anders, als er im Frühjahr gewesen sein muss. Er begrüßte unseren Büromanager herzlich. „Ja, wo waren Sie denn? Ich habe damals auf Sie gewartet. Sie hatten sogar eine Unterschrift des Ministers. Alles war doch fertig. Aber Sie sind nicht gekommen.“ Nun gut; jetzt mussten nur noch die persönlichen Fragebögen ausgefüllt werden und dann war der Fall erledigt.

Als wir tags darauf mit den ausgefüllten persönlichen Formularen erschienen, war der Abteilungsleiter wieder wie verwandelt. Er ging noch einmal den Brief durch, den OFARIN im Frühjahr geschrieben hatte und auf dem der Minister seine Befürwortung untergebracht hatte. Das sei ja nun nicht mehr aktuell. Da müsse etwas Neues geschrieben werden. Und vor allem hätten wir nun schon längere Zeit ohne Arbeitserlaubnis gearbeitet. Das müsse mit dem Minister besprochen werden. Um 12 Uhr sei eine Sitzung. Da treffe er den Minister und könne das mit ihm besprechen. Wir warteten. Gegen 12 Uhr war zu erfahren, dass der Minister eine Inlandsreise angetreten hatte und erst in der nächsten Woche erreichbar war. Abdul Hussain, unser Büromanager, schnappte sich alle Unterlagen, damit er mit dem Minister über den Fall reden könne und nicht der Abteilungsleiter.

Wenn man das Arbeits- und Sozialministerium betritt, muss man sich insgesamt drei Abtastungen aussetzen. Irgendwann erreicht man einen Raum, in dem man warten darf. Die Wände hier sind bis in 2 m Höhe mit Kunststoffquadraten getäfelt, die Holz imitieren. Auf der Fensterseite stehen drei Schreibtische, und dahinter Schreibtischstühle feinster ostasiatischer Provenienz. Unter zwei Tischen stehen Desktops, auf einem Tisch ist ein Bildschirm. An zwei Seiten des Zimmers stehen vielleicht 16 neuere Stühle – glänzende Stahlgestelle, die Sitz- und Lehnflächen sind mit schwarzem Kunstleder gepolstert. Alles ist so eingerichtet, dass es den Menschen, die sich hier aufhalten, gefallen dürfte.

Der Herr hinter dem linken Schreibtisch ist offenbar der Ranghöchste. Als wir eintreffen, kaut er irgendetwas. Nach einer halben Stunde kaut er immer noch. Ein vierter Ministerialbeamter saß auf einem der Wartestühle. Seine Aufgabe war es, den anderen drei Tee zu bringen.

Als wir dort eintrafen, teilte unser Büromanager dem Zimmerchef mit, dass wir den Verwaltungschef des Ministers sprechen wollten. Dann nahmen wir Platz und warteten. Auf der einen Seite des Raums hing unter der Decke ein Bildschirm. Dort lief ein Fernsehdrama. Plötzlich fiel der Strom aus. Nun beschäftigten sich die Beamten damit, auf ihren Mobiltelefonen zu surfen.

Vielleicht jede Viertelstunde betrat ein Mann den Raum und teilte einem der beamteten Insassen mit, was er wollte, und nahm dann Platz. Mancher dieser Besucher stand nach längerem Warten auf und ging. Mancher durfte den Raum durch eine niedrige Seitentür in einen anderen Raum verlassen.

Nach vielleicht anderthalb Stunden teilte uns der Zimmerhöchste mit, dass wir dran seien. Wir verließen den Raum durch die niedrige Seitentür und durften von dort aus eine Treppe hochsteigen.

Sie werden fragen, ob dieses Ministerium nicht total überbesetzt sei. Ja, das ist es. Ein Zehntel der Mitarbeiter könnte bequem alle Aufgaben dieses Ministeriums erledigen.

Ein Minister hat dafür zu sorgen, dass sein Ministerium seine Aufgaben für die Allgemeinheit erfüllt und z.B. Arbeitsplätze für die Bevölkerung schafft. Das kann nur klappen, wenn seine Untergebenen seine Anordnungen befolgen. In Afghanistan kann ein Abteilungsleiter die Weisung seines Ministers souverän missachten. Können afghanische Ministerien funktionieren? Nein, das können sie nicht.

Für einen bestimmten Stadtteil hat die Regierung beschlossen, dass höchstens zweigeschossige Wohnhäuser errichtet werden dürfen. Ein Investor möchte dort aber ein zehnstöckiges Mietshaus bauen. Er verhandelt mit den Behörden, die für die Zulassung von Neubauten zuständig sind. Schließlich darf er ein zehnstöckiges Mietshaus bauen, das alle Häuser der Gegend weit überragt. Man munkelt, er habe für die Genehmigung einige Zehntausend Dollar Schmiergeld gezahlt. Ein anderer Unternehmer möchte in der Gegend mehrere ein- und zweistöckige Wohnhäuser bauen. Er hat schon Kunden, die dorthin ziehen möchten und ihm Anzahlungen geleistet haben. Er hat alle Auflagen erfüllt, aber er kann immer noch nicht anfangen. Aus immer einem anderen Grund verweigert man ihm die Genehmigung. Die Bauverwaltung, die ihm die Genehmigung erteilen müsste, hat wissen lassen, dass er Hunderttausend Dollar Schmiergeld zahlen soll. Ohne die gäbe es keine Baugenehmigung.

Kurz: Wer eine Bestimmung umgehen will, muss Schmiergeld zahlen; wer sich an die Bestimmungen hält, muss ebenfalls Schmiergeld zahlen, damit er seine Rechte wahrnehmen kann. Die Bestimmungen, die die Regierung ursprünglich erlassen hat, sind wirkungslos.

Werden die Regierungsbeamten so schlecht besoldet, dass sie Schmiergelder bräuchten, um ihre Familien zu ernähren? Nein, diejenigen, die in Positionen sitzen, in denen sie Genehmigungen erteilen, sind gut besoldet. Die verhungern auch ohne Schmiergeld nicht.

In einer Stammesgesellschaft wie der afghanischen gehört die Loyalität der Menschen vor allem der eigenen Sippe und Familie. Unter diesen Bedingungen ist es schwer, eine funktionierende Firma oder eine funktionierende staatliche Verwaltung aufzubauen. Denn sowohl die Firma als auch die Staatsverwaltung sind auf die Loyalität ihrer Mitarbeiter angewiesen.

In den leitenden Stellen des Staatsdiensts findet man durchaus Menschen, die verstehen, wie wichtig es ist, dass Schulen, wie die von OFARIN, arbeiten und dass dringend Arbeitsplätze geschaffen werden müssen. Minister und hohe Beamte stehen meist loyal hinter der Regierung. Doch unterhalb der absoluten Spitze schlägt meist schon die afghanische Stammesstruktur durch.

Da ist die Loyalität gegenüber dem Staat dürftig. Die Stammesstruktur bestimmt das Leben. Es ist aber nicht so, dass der Abteilungsleiter das Schmiergeld, das er ergaunert, an seine Familie oder Sippe verteilt. Die Stammesstruktur hat vielmehr dafür gesorgt, dass ihn seine Familie zum Kronprinzen ausgewählt hat. Wäre er lediglich einer der meist vielen Knaben der Familie und wäre er nicht zum Kronprinzen auserkoren, dann hätte er es auch nicht zum Abteilungsleiter gebracht. Er war also Kronprinz. Als kleines Kind haben ihn die Mutter und die anderen Frauen der Familie verwöhnt. Man hat ihn gelobt, obwohl er keine Leistungen erbracht hat. Schranken hat man ihm keine gesetzt. Kritisiert wurde er nicht. Er ist im Bewusstsein seiner eigenen Vorzüglichkeit aufgewachsen. Es fällt ihm schwer, die Leistungen anderer Menschen anzuerkennen. Mit anderen gleichberechtigt zusammen zu arbeiten – oder sich gar einem Vorgesetzten unter zu ordnen. Nein, das kann man ihm nicht zumuten. Wer ist er denn?

Die Schmiergelder, die er kassiert, zeigen an, was für eine wichtige Stellung er innehat und wie tüchtig er ist. Sie sind der Indikator für seine Bedeutung. Kein Schmiergeld wäre persönliches Scheitern. Solche Rückschläge hat seine Erziehung für ihn nicht vorgesehen.

Auch liegt es auf der Hand, dass ein Ministerium nicht so funktionieren kann, wie wir uns das vorstellen. Wenn der Minister einem Untergebenen eine Anweisung gibt, ist es offensichtlich, wer hier der Vorgesetzte und wer derjenige ist, der zu gehorchen hat. Natürlich weiß jeder, dass der Minister der Vorgesetzte des Abteilungsleiters ist. Aber das direkt zu zeigen oder auszusprechen, beleidigt den Abteilungsleiter. Er muss das Tabu aufrecht halten, dass er niemanden über sich hat. Das ist so wie mit dem Rauchen. Natürlich weiß die ganze Nachbarschaft, dass die Söhne des feinen Herrn, der mit seiner Familie an der Kreuzung der beiden Hauptstraßen lebt, rauchen – und zwar nicht nur Tabak. Schließlich kann das jeder riechen. Dennoch wäre es eine ganz schwere Beleidigung, wenn jemand in Anwesenheit des feinen Herrn öffentlich ausspricht, was alle wissen.

Nun stellen Sie sich vor, dass ein Bittsteller einen Antrag stellt, um ein Unterrichtsprogramm für arme Jugendliche durchzuführen! Der Minister erkennt sofort, dass dieses Programm vielen jungen Menschen helfen würde und dass es gut in die Planungen der Regierung passt. Dann erfährt er, dass der Abteilungsleiter die Genehmigung für das Projekt verweigert hat, angeblich weil der Bittsteller nicht die richtige Ausbildung hat, um dieses Projekt zu leiten. Ihm ist klar, dass es dem Abteilungsleiter um Schmiergeld geht. Soll er anordnen, dass der Abteilungsleiter das Projekt sofort genehmigen soll? Dann zeigt er dem Abteilungsleiter, wer hier das Sagen hat und dass der Abteilungsleiter sich unterordnen muss. Der Abteilungsleiter wird dem Minister das nie verzeihen. Eine Zusammenarbeit zwischen Minister und Abteilungsleiter wird in Zukunft sehr schwierig werden. Ein Minister benötigt sehr viel Diplomatie und Einfühlungsvermögen, wenn er die Fehlleistung eines Untergebenen korrigieren will. Wenn es möglich ist, wird er Fehlleistungen lieber nicht korrigieren.

2002 hat die internationale Gemeinschaft den Wiederaufbau des afghanischen Staatswesens ohne ein Konzept begonnen. Man hat das alles bezahlt. Die Afghanen haben versucht, die Ministerien und Ämter aus der guten alten Zeit vor 1978 wieder aufzubauen. Doch auch diese alte Verwaltung litt schon unter den Bedingungen der Stammesgesellschaft, und war wenig effizient. Mit dem Konzept einer Staatsverwaltung, die dem Wohle aller Bürger verpflichtet ist, war man 2002 überfordert. Das hätte eine enge internationale Begleitung des Wiederaufbaus, eine gute internationale Abstimmung und einen hohen ausländischen Personalaufwand erfordert. Diese Kosten hat man vermieden. Der Staat, der so wiedererstand, wird häufig schon als gescheitert bezeichnet.

 

Herzliche Grüße, Peter Schwittek.