Abdul Hussain ist unser Büro-Manager. In der Abwesenheit von Anne Marie und mir ist er das allseits respektierte Oberhaupt der Belegschaft. Er handelt ruhig und umsichtig, kann aber auch sehr entschlossen sein, wenn es nötig ist. Er gehört zum Volk der Hazara. Mit seinen Eltern hat er länger im Iran gelebt. Im Abendstudium hat er Jura studiert. Einen kleinen Laden, in dem er Computer reparierte und -zubehör verkaufte, hat er auch schon mal betrieben. Bei uns ist er schon über fünfzehn Jahre. Damals hatten wir es auf seine Schwester Rahima abgesehen, die bei uns als tüchtige Lehrerin arbeitete. Die hätten wir gerne in unserem Büro beschäftigt. Aber sie lehnte ab. Die tägliche Anreise aus Dascht-e-Bartschi, wo sie bei den Eltern wohnte, war mit öffentlichen Minibussen und Sammeltaxis schon damals anstrengend und zeitraubend, zumal für Mädchen und Frauen. Mir fiel ein, dass ihr Bruder ein Leichtmotorrad besaß. Wir stellten beide ein.
Inzwischen haben beide geheiratet. Die Eltern waren auf der Hadsch. Rahima ist in Dascht-e-Bartschi als lokale Trainerin für viele unserer Klassen verantwortlich. Hussain ist die Schlüsselfigur in OFARINs Büro. Die Geschwister, ein weiterer Bruder, der beim Staat beschäftigt ist, und die Eltern haben gemeinsam ein Haus gebaut. Das hebt sich aus dem grauen Einerlei von Dascht-e-Bartschi heraus. Es hat ein Parterre-Geschoss und zwei Obergeschosse. Sonst sind Häuser dort allenfalls zweigeschossig. Das neue Haus hat eine Marmorfassade. Die Eltern, der Bruder, Rahima und Hussain, jede Familie hat eine eigene Wohnung dort. Sonst gibt es noch zwei oder drei weitere Mietparteien.
Kidnapping, die ständige Gefahr
Im letzten Dezember war das Haus vielleicht ein Jahr bezogen, da meldete sich die Sicherheitsbehörde und teilte Hussains Verwandtschaft mit, dass sie gefährdet sei. Sie sollten das Haus mit einem Bewegungsmelder sichern, Kinder nicht unbegleitet in die Schule gehen lassen und sich das Tragen von Pistolen erlauben zu lassen. Diese Vorschläge, sich zu schützen, überzeugten nicht, zumal über die Art der Bedrohung nichts zu erfahren war. Die Sippe zog in einen anderen Stadtteil und mietete sich eine Wohnung in einem bewachten Haus – genauer: fast die ganze Sippe. Rahima mit Mann und Kind blieben im Marmorhaus.
Das muss man mit dem afghanischen Verwandtschaftsverständnis erklären. Rahima war verheiratet und gehörte nun zur Sippe, in die sie geheiratet hatte, und nicht mehr zu der, in die sie geboren wurde. Die anderen zahlten für das „guarded housing“ 450 $ im Monat. Hussain verdient bei uns 380 $ im Monat. Es ist also nicht nur räumlich eng geworden. Die Sicherheit gab keine Auskunft, sooft Hussain, der Vater oder der Bruder fragten. Der Vater schlug vor, das Haus zu verkaufen und woanders hin zu ziehen.
Nach drei Monaten meldete sich die Sicherheitsbehörde dann doch. Hussain und sein Vater wurden eingeladen, sich alles erklären zu lassen. Eine Bande von vier Verbrechern hatte geplant, Hussain oder Verwandte zu kidnappen. Die Bande war gefasst worden. Es handelte sich um vier Hazara aus der Gegend westlich von Ghazni. Die Verbrecher hätten gewusst, dass Hussain schon zehn Jahre für Ausländer arbeitete und hielten ihn deshalb für steinreich. Sie hatten wohl auch geplant, den Besitzer einer Tankstellenkette zu verschleppen, der tatsächlich steinreich ist. Die Sicherheitskräfte hatten auch das verhindert. Sie freuten sich über ihren Erfolg. Die Erleichterung war groß.
Tags darauf mussten Vater und Sohn zur Staatsanwaltschaft. Der Staatsanwalt nannte ihnen vier Namen und fragte, ob sie die Namen kennen. Sie kannten die Namen nicht. Namen sind in Afghanistan nichts für die Ewigkeit. Sie werden immer wieder gewechselt. Sogar in ihren Papieren tragen viele Bürger verschiedene Namen herum. Der Ausweis wurde von der Regierung ausgestellt, als jemand sich Hamidullah nannte. Als Hamidullah von der nächsten Regierung einen Pass brauchte, hieß er schon Jaqub und ließ sich diesen Namen eintragen. Der Staatsanwalt erklärte, wenn Hussain oder der Vater nichts gegen Personen mit den genannten Namen vorzubringen hätten, läge nichts gegen die vor und er müsse sie freilassen. Hussain, der ja Jura studiert hatte, wusste, dass man ihnen die Beschuldigten hätte zeigen müssen. Aber sie sahen nicht einmal Fotos von denen. Doch was hätte das geholfen? Hussain und seine Familie kannten ihre Bedrohung nicht. Die hatten die Sicherheitsbehörden entdeckt.
Kidnapping ist in Afghanistan verbreitet. Für die Menschen in Kabul, auch für uns Ausländer, ist es eine realere Bedrohung als die Anschläge, die der pakistanische Geheimdienst durchführen lässt und die dann den Weg in die westlichen Medien finden. Menschen, auch Kinder, werden verschleppt. Der Familie teilt man das mit, indem man dem Opfer einen Finger oder ein Ohr abschneidet und zusammen mit der Lösegeldforderung zuschickt. Die Forderungen können oft noch heruntergehandelt werden, aber selten unter 100.000 $.
Für Ausländer wird glatt das Zehnfache verlangt. Deren Verschleppung erfordert viel größeren Aufwand. Befindet sich ein Ausländer bei einem Überfall in Begleitung von Afghanen, werden die Begleiter zweckmäßigerweise umgebracht. Um die Freilassung eines Ausländers bemüht sich sowohl der afghanische Staat als auch Spezialkräfte des Landes des Verschleppten. Es ist aufwendig, einen Fremden zu verbergen und schließlich mit erfahrenen Spezialisten um dessen Leben zu feilschen. Dennoch hat sich inzwischen eine kriminelle Infrastruktur entwickelt, die auch solchen Aufgaben gewachsen ist. Der Aufwand ist höher als bei Afghanen, aber die Gewinnaussichten auch.
Ein Afghane, dessen Familie nicht zahlen kann, wird umgebracht. Dennoch erfordert auch das Verschleppen von Afghanen weiteren Aufwand. Es werden immer wieder Anläufe gemacht, gegen das Unwesen vorzugehen. Also sind die Ausübenden dieses Gewerbes nie ganz sicher, dass sie nicht doch für ihr Tun bestraft werden. Deshalb braucht man Staatsanwälte, die die Verfolgung solcher Verbrechen verhindern, wie z.B. den Staatsanwalt, an den Hussain und sein Vater geraten sind. Oder man braucht Gefängnisdirektoren, die einem die Tür in die Freiheit nach wenigen Wochen öffnen, obwohl man zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Auch solche Justizbeamten tun und unterlassen nichts aus eigener Machtvollkommenheit. Sie gehören zu Seilschaften, an deren Spitze Anführer stehen, an denen sich der afghanische Staat nicht vergreift, Oligarchen also.
Einige von denen tragen den Heiligenschein eines Anführers des Widerstands gegen die Kommunisten. Sie haben Krieger befehligt. Viele ihrer Kämpfer haben, ebenso wie deren Nachfahren, noch heute keinen anderen Broterwerb gefunden, als unter dem Kommando eines Oligarchen eine Kalaschnikow herumzutragen. Die Oligarchen besitzen also weiterhin Milizen. Wenn keine ausländischen Truppen in Afghanistan stationiert wären, würden sie untereinander Bürgerkrieg führen. Wegen der ausländischen Truppen trauen sie sich das nicht. Milizen kosten. Die alten „Kriegshelden“ und die anderen Oligarchen verkaufen Ländereien für neue Siedlungsgebiete. Diese Ländereien gehören eigentlich dem Staat, aber die Regierung Karzai hatte keine Einwände gegen die Aneignungen durch die Oligarchen. Aber auch die aktive oder passive Teilnahme am Kidnapping spült mehr als Kleingeld in die Kassen. Als passive Teilnahme ist z.B. das Kassieren von Gebühren über korrupte Justizbeamte zu sehen.
Die betroffene Bevölkerung sieht das Kidnapping nicht emotionslos. Ein Fall erregte in den letzten Wochen die „sozialen Medien“. Ein sechs oder sieben Jahre altes Mädchen war verschleppt worden. Die Entführer verlangten 400.000 $, ließen sich dann aber auf 100.000 $ herunterhandeln. Doch die Eltern konnten auch dieses Geld nicht aufbringen, obwohl der Vater Geldwechsler ist. Das Mädchen wurde ermordet. Die Sicherheitskräfte waren den Tätern aber schon dicht auf den Fersen gewesen und wollten sie nun verhaften. Es gab eine Schießerei. Einer der Täter kam um, die anderen beiden wurden verhaftet. Es waren die Söhne des Nachbarn des ermordeten Kindes. Zehntausende Freunde von Facebook verlangten, die Täter zu hängen. Aber die Justiz bestrafte sie mit langen Gefängnisstrafen von 16 Jahren, glaube ich. Der Bevölkerung ist das Strafmaß egal. Die weiß, wie die „Bestrafung“ verlaufen wird.
Ab und zu versucht der Staat gegen das Verbrechen vorzugehen. Das lässt hoffen. Es zeigt, dass in der Gesellschaft die Kräfte, die einen ordentlichen Rechtsstaat haben wollen, stark sind. Wenn die alten „Kriegshelden“ nicht mehr sind, wird die Regierung sich nicht scheuen, gegen ihr Gefolge vorzugehen, hofft man. Der Kriegsherr Sayyaff, der in Paghman, nicht weit von Kabul, Platzhirsch ist, wird noch nicht angetastet, auch wenn er bei weitem nicht mehr den Einfluss und die Bewegungsfreiheit hat, wie unter dem Präsidenten Hamid Karzai. Wenn Sayyaff einmal stirbt, was viele Menschen ihm vom ganzen Herzen wünschen, wird jede Regierung Sayyaffs Neffen Mumtaz das Handwerk legen, ist man sicher. Mumtaz betreibt bis in die Stadt Kabul hinein ein kriminelles Netzwerk und ist insbesondere im Kidnapping-Geschäft sehr aktiv. Wir hoffen mit.
Ein neuer Innenminister wurde ernannt, ein Pandschiri. Der mischte die Polizei auf. Die Belegschaften, die für die Stadtteile zuständig sind, wurden untereinander ausgetauscht. Die Sicherheitskräfte wurden nicht ganz offiziell angewiesen, Kidnapper sofort zu töten. Die Menschen waren begeistert.
In Afghanistan sollen dieses Jahr Präsidentschaftswahlen stattfinden. Der Präsident Ashraf Ghani holte den erfolgreichen Innenminister in sein Wahlkampfteam. Damit durfte der Mann nach nur drei Wochen Tätigkeit kein Staatsamt mehr ausüben und wurde durch seinen Stellvertreter ersetzt.
Der Eifer von Polizei und Sicherheitskräften, den der einstige Innenminister entfacht hat, ist noch nicht erloschen. Täglich werden noch Verhaftungen von Verbrechern gemeldet. Aber das wird sich beruhigen. Der Fall von Abdul Hussain zeigt, dass hochkorrupte Staatsanwälte wieder ihres Amtes walten. Sicherheitskräfte, die noch stolz auf ihre Erfolge sind, werden bald die Freude an ihrer Arbeit verlieren.
Abdul Hussain, sein Vater und sein Bruder müssen das Marmorhaus verkaufen und sich eine sichere Unterkunft suchen. Wir kennen niemanden, der 100.000 $ aufbringen könnte, wenn es sein muss.
Ausweitung des Unterrichts
Neulich waren wir in Charikar. Das ist die Hauptstadt der Provinz Parvan. Kabul liegt am südlichen Ende der Hochebene von Schomali. Charikar liegt auch in dieser Ebene, gut 60 km nördlich von Kabul. Hadschi Farid hat hier sein Büro. In seinem Kabuler Haus findet Unterricht von OFARIN statt. Er bat uns, auch in Charikar aktiv zu werden. Unsere miese wirtschaftliche Lage erlaubt keinen weiteren Unterricht. Wir wären froh, wenn wir den Unterricht weiter betreiben könnten, den wir zur Zeit anbieten. Der Unterricht in Charikar sei hoffnungslos schlecht, jammerte der Hadschi. Die Familien wollen, dass ihre Kinder etwas lernen. Und! Er habe vier Lehrkräfte gefunden, die umsonst unterrichten würden. 120 Kinder wollen teilnehmen.
Da kann man nicht „nein“ sagen. Leider ist es nicht so, dass OFARIN der Unterricht nichts kostet, wenn die Lehrkräfte umsonst arbeiten. Wenn wir die Verantwortung für den Unterricht übernehmen, muss die Qualität stimmen. Wir müssen das Material stellen, Hefte, Bücher, Tafeln, Kreide und Matten, auf denen die Schüler sitzen können. Wir müssen die Lehrkräfte in Seminaren auf ihr Tun vorbereiten. Wir müssen den Unterricht oft genug besuchen. Charikar liegt außerhalb von Kabul. Zugegeben! Aus der Welt ist es nicht. Am Wochenende waren wir in Dascht-e-Bartschi, also einem Stadtteil von Kabul. Von unserem Büro nach Daschte-e-Bartschi brauchten wir viel länger als nach Charikar. Es wäre auch kein Präzedenzfall. Lehrkräfte, die uns nicht kennen, arbeiten nicht ohne Bezahlung. Umsonst und dann noch ein Seminar als Aufnahmeprüfung. Nein danke! Aber mit Hadschi Farid ist das anders. Der kann angehenden Lehrkräften glaubhaft Hoffnung auf eine erfolgreiche und anerkannte Tätigkeit machen.
Also fuhr ein Team nach Charikar und sah sich die Räumlichkeiten an. Das Erdgeschoss des Hauses ist rohester Rohbau. Hier soll der Unterricht stattfinden. Heizbar ist da nichts. Aber es soll ja Frühling werden. Wenn man in den ersten Stock will, muss man trittfest sein. Jeder Schritt muss sitzen. Die Betonstufen sind total ausgefranst und haben tiefe Löcher. Im ersten Stock ist plötzlich ein Teil des Bodens gefliest. Es liegen sogar Teppiche aus. Man erreicht Hadschi Farids Büro. Hier stehen Sessel und Tische mit Glasplatten. Ein Öfchen war mit einer Gasflasche verbunden und verbreitete ein wenig feuchte Wärme. Nach einer halben Stunde war die Gasflasche leer.
Hier fand das „Seminar“ mit den künftigen Lehrkräften statt. Ein älterer Mullah und zwei junge Mädchen hatten sich eingefunden. Später kamen noch zwei Männer. Einer von ihnen soll der Trainer sein. Die Mädchen hatten ihre Gesichter unterhalb der Augen mit einem Schal verborgen. Unsere Kollegin Nassiba setzte sich kurz zu ihnen, und die Schals verschwanden. Der Mullah sprach ein Gebet. Dann ging es los.
Die Spannung löste sich. Die Beteiligung war lebhaft. Wir gingen den ganzen Stoff durch, den wir auch andernorts im allerersten Seminar durchsprechen. Das dauert um die zwei Stunden. Sehr oft müssen wir solche ersten Seminare wiederholen, weil die Teilnehmer keine Ahnung hatten, wie sie sich vorbereiten sollen. Aber hier war ich recht zufrieden und sagte das auch. Auch meine Kollegen von OFARIN hielten kein weiteres Seminar für nötig. Aber sie machten mir klar, dass ich hätte etwas kritischer hinschauen sollen:
Der Mullah war nur in der Anfangsphase aktiv, als es um die allgemeine Ordnung ging – um die Kontrolle der Anwesenheit oder um Verspätungen von Schülern und Lehrern. Als die eigentlichen Unterrichtsinhalte besprochen wurden, war er sehr zurückhaltend. Die Mädchen waren eifrig. Aber sie hatten das Lehrbuch immer dort aufgeschlagen, wo der Stoff stand, der gerade besprochen wurde. Das half ihnen, den Lehrbuchtext wörtlich wieder zu geben.
Die Unterrichtspraxis wird zeigen, ob sie verstanden haben, was das Lehrbuch will. Wir haben uns auf das Abenteuer eingelassen. Jetzt müssen wir fleißig nach Charikar reisen und unseren neuen Kollegen helfen, ordentliche Lehrkräfte zu werden.
Ergänzung des Herausgebers (Wolfgang Siebert):
Ich erlaube mir hier das Spendenkont0 von OFARIN e.V. zu nennen:
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