Stimmt schon: Vieles von dem, was Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in seinen emotionalen Europa-Appell geschrieben hat, ist nicht neu, erinnert an seine Sorbonne-Rede im Herbst 2017. Das damalige Pathos hallt noch nach, Politik ist daraus bisher kaum geworden. Und ja: Macron denkt nicht nur an Europa, sondern auch an das eigene Fortkommen. Seinen Einzug in den Élysée vor knapp zwei Jahren verdankt er einer mutigen pro-europäischen Wahlkampagne. Seit dem Gelbwesten-Aufstand im Dezember gegen den „Präsidenten der Reichen“ steht Macron zu Hause jedoch enorm unter Druck, da kann ein flammender Appell gegen den neuen Nationalismus in Europa die eigenen Reihen schließen.
Das alles ändert aber nichts daran, dass die Analyse des Franzosen im Kern zutrifft. Und die Leidenschaft, mit der sie vorgetragen wird, macht erst klar, wie sehr diese Empathie der deutschen Kanzlerin fehlt. Das politische Projekt Europa steht auf der Kippe: Am 26. Mai droht eine Blockade oder gar eine feindliche Übernahme durch die Kräfte, die auf Abschottung und nationale Egoismen setzen. Das Rezept, mit dem Macron die „Wut der Völker“ bekämpfen will, lautet: Europa first. Das ist gewagt, aber nicht ohne Logik. Am deutlichsten wird sie bei der Forderung nach einer neuen Industrie- und Handelspolitik, die verhindern soll, dass europäische Firmen im Kampf der Amerikaner und Chinesen um die globale Hegemonie einfach plattgemacht werden. Ideen sind noch keine Politik, aber ohne Ideen verliert Politik die Richtung. Deshalb lohnt es sich, über Macrons Europa-Vision zu streiten.