Was berichteten die Medien am 20. September 2018 über Afghanistan? Sie können sich an nichts erinnern. Sie haben Recht. Es gab keinen Selbstmordanschlag, keinen Überfall und kein größeres Gefecht.
Am 20. September wurde das Aschora-Fest gefeiert. Nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahre 632 war sich die Gemeinschaft der Gläubigen nicht einig, wer die Nachfolge antreten und Kalif werden soll. Eine Minderheit hielt Ali, den Neffen und Schwiegersohn von Mohammad, für den richtigen Anführer. Die Mehrheit setzte aber Abu Bakr und nach dessen Tod Omar durch. Erst als Omar ermordet worden war, wurde Ali Kalif. Doch inzwischen hatten die Statthalter des entstehenden islamischen Reiches in Damaskus, die Omayyaden, eine Machtbasis aufgebaut und traten gegen Ali an, der 661 ermordet wurde. 680 wollte Hussain, der Sohn des Ali und Enkel des Propheten, die Macht für die Familie des Propheten zurückgewinnen. Seine militärischen Mittel waren denen der Omayyaden weit unterlegen. Hussain und sein Gefolge kamen bei Kerbala im Irak um. Die Einheit der Muslime war endgültig zerbrochen. Die Anhänger Alis und Hossains bildeten als Schiiten eine eigene Richtung.
Die katastrophale Niederlage bei Kerbala wird alljährlich von den Schiiten inbrünstig als Aschora-Fest gefeiert. Männer kasteien sich in den Moscheen, um die Leiden der Gefolgschaft Hosseins nachzuvollziehen. In vielen islamischen Ländern, auch in Afghanistan, ist Aschora ein offizieller Feiertag für alle Moslems.
Radikale Sunniten sehen in Aschora dagegen ein Fest, das gegen sie gerichtet ist. Die Anhänger des Islamischen Staates – sie heißen hier Dawesch – geifern dagegen an. Zum Aschora-Fest fanden in den letzten Jahren zahlreiche Anschläge auf schiitische Moscheen statt. Für die Dawesch sind Schiiten ohnehin keine Moslems und müssen abgeschlachtet werden.
Dascht-e-Bartschi ist eine riesige Siedlung des Volkes der Hazara im Westen von Kabul. Die Hazara sind Schiiten und stammen offensichtlich aus Ostasien. Sie müssen nach oder mit Dschingis Khan hier eingewandert sein. Tschingis Khan hatten große Teile der Bevölkerung Afghanistans schlicht ausgerottet, so dass für andere Völker Platz war. In Dascht-e-Bartschi leben mindestens eine Millionen Hazara. In diesem Stadtteil gab es im letzten Jahr einige Anschläge auf Moscheen und ein Massaker in einer Privatschule, in der junge Leute auf die Zulassungsprüfungen zur Universität vorbereitet werden. Die Dawesch prahlten damit, dass sie diese Überfälle begangen hätten.
Einige unserer Mitarbeiter wohnen in Dascht-e-Bartschi. Wie konnten die Dawesch in Dascht-e-Bartschi Anschläge begehen? Die Dawesch, das sind doch Paschtunen. Die erkennt man am Aussehen sofort unter den Hazara. Man erzählte mir, dass die Dawesch auch Turkmenen und Usbeken für Selbstmordanschläge präpariert hätten. Die seien kaum von den Hazara zu unterscheiden. Ich riet meinen schiitischen Mitarbeitern, zum Aschora-Fest nicht in die Moschee zu gehen.
„Das geht nicht. Wer sich da drückt, auf den zeigen die Nachbarn noch jahrelang mit Fingern. Aber mach Dir keine Sorgen! Es wird nichts passieren.“
Und dann erzählten sie, dass man diesmal gut vorbereitet sei. Die Menschen hatten sich mit türkischen Jagdgewehren eingedeckt. Mit denen kann man Elefanten erlegen. Sie sind für Zivilpersonen erlaubt. Bürgerwehren wurden aufgestellt, und die kontrollierten schon seit Tagen alle Straßen in den Schiitenvierteln. Autos wurden angehalten und durchsucht.
Auch die Regierung war aktiv und meldete, sie habe kurz vor dem Fest 26 Personen verhaftet, die Anschläge durchführen sollten. Einer der Verhafteten war allerdings schon vor vier Monaten verurteilt worden, weil er einen Anschlag durchführen wollte. Jetzt war er schon wieder frei gewesen.
Dergleichen erklärt, warum die Bevölkerung es selbst in die Hand genommen hat, sich zu schützen. Die Regierung schickt gewöhnlich einige Soldaten und Polizisten in die ganz großen schiitischen Moscheen und stellt den Imamen einige zusätzliche Gewehre zur Verfügung. Aber das reiche bei weitem nicht, zumal bei Selbstmordanschlägen. Diesmal habe man die Stadtviertel flächendeckend selber unter Kontrolle genommen.
Lange galten die Herren Khalili und Maqiq als die Repräsentanten der Hazara. Sie waren korrupt und brutal gegen ihre Gegner. Für die Schiiten waren sie eine nutzlose Belastung. Ihre Bedeutung wurde durch das System der Präsidentenwahl gestärkt. Jeder Präsidentschaftskandidat bestimmt zwei Vizepräsidentschaftskandidaten, die im Falle seiner Wahl seine Vertreter werden. Um sich die Stimmen der Schiiten zu sichern, suchten sich die Präsidentschaftskandidaten gerne einen der genannten Herren als potentiellen Vizepräsidenten aus. Jetzt ist der Bedeutungsverfall der beiden nicht mehr aufzuhalten. Maqiq wurde kürzlich in Mazar-e-Scharif in Nordafghanistan verboten, am Gottesdienst teilzunehmen. Er wurde aus der Moschee verwiesen.
„Aber wer organisiert die Sicherheitsvorkehrungen für das Fest?“
„Das sind die Leute selber. Da ist derzeit keiner zu erkennen, der die anderen dominiert. Das ist auch gut so. Sobald einer etwas über den anderen steht, versucht er, Vorteile daraus zu ziehen.“
Das Aschora-Fest kam, und es passierte nichts. In der Stadt Jalalabad im Osten hat ein Terrorist – aber vielleicht war es auch ein gehörnter Ehemann – eine Haftbombe an einem Auto anbringen können. Vier Menschen starben. Alle anderen Provinzen meldeten absolute Ruhe. Sollen die Medien jetzt sogar über Afghanistan berichten, weil dort einmal kein Blut geflossen ist – oder fast kein Blut? Ja, an diesem Tag hätten sie über viel mehr berichten können als über einen Anschlag mit zig Toten. Am Aschora-Fest 2018 ist fast nichts passiert. Aber warum? Weil die Bevölkerung selber dafür gesorgt hat. Sie hatte ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen. Jeder Bürger hat erlebt, dass alle zusammen sehr viel erreichen können, wenn sie sich selbst helfen und nicht auf den Staat oder auf korrupte Stammesgrößen verlassen. Die internationalen Medien haben das übersehen. Am Selbstverständnis und am Bewusstsein der Afghanen werden diese Ereignisse nicht spurlos vorbeigehen.
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